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Alter-na(t)iv-los!

Anders als Peter Pan in meinem Märchenbuch war ich als Kind schon früh der Überzeugung, dass es Sinn macht, erwachsen zu werden. Erwachsene hatten schließlich damals wie heute uneingeschränkt Zugang zu Süßigkeiten, Limonade und Fernseher und obendrein auch noch die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob ein Zimmer aufzuräumen, ein Teller leerzuessen oder ein Vorgarten ungeeignet ist, um dort ein Schaf zu halten. Derartige Vorzüge ließen mich als kleiner, dicklicher Junge völlig außer Acht lassen, dass erwachsen zu werden wohl auch zwangsläufig heißt, langweilig zu werden…

Irgendwie hatte ich mir das mit dem Älterwerden damals anders vorgestellt als es schlussendlich kam. Nicht unbedingt wie bei hässlichen Raupen, die sich verpuppen und als schöne Schmetterlinge neu geboren werden, aber auch nicht viel anders. Während der Pubertät hatte ich täglich die Hoffnung, aus meinem kindlichen Dornröschenschlaf erweckt zu werden. Wenn auch nicht unbedingt durch den Kuss eines Prinzen. Dass es länger dauerte als gehofft, bis ich als Erwachsener erwachte, mag daran gelegen haben, dass ich weniger wie Dornröschen als vielmehr wie Rumpelstilzchen aussah…

Bedenkt man, dass ich als Kind noch der Ansicht war, dass nur Großmütter und Dinosaurier älter als Vierzig sind, muss ich mittlerweile feststellen, dass auch ich dieses Alter längst erreicht habe. Allerdings ohne selbst Oma oder ein T-Rex zu sein. Dass Vierzig heutzutage das neue Dreißig sein soll, tröstet nicht, wenn man sich daran erinnert, dass Jesus schon mit knapp über Dreißig Probleme mit dem Kreuz hatte. Wenn man es genauer betrachtet – und Spiegel lügen nicht – ist Vierzig wohl eher das neue Fünfzig. Zumindest morgens, wenn man abends zuvor mit Kumpels unterwegs war…

Der Übergang vom juvenilen zum adulten Homo sapiens war bei mir schleichend und dennoch überraschend. Es war nicht etwa so, dass ich eines Abends als flaumiges Kind mit Hühnerbrust im Disney-Schlafanzug ins Bett ging und morgens als vollbärtiger Erwachsener mit Männerbrust in Hemd und Krawatte wieder aufstand. Irgendwie scheine ich den Moment verpasst zu haben, an dem mein Körper von Jung auf Alt und damit leider auch von Elan auf Elend umstellte. Und da sitze ich nun heute, im Kopf nicht älter als Mitte Zwanzig, gefangen im Körper eines Typen Mitte Vierzig…

Ehrlich gesagt gab es schon vor vielen Jahren deutliche Anzeichen, dass ich erwachsen geworden bin und damit so, wie ich nie sein wollte: wie meine Eltern! Bestand zur Studentenzeit der überwiegende Teil meiner Mahlzeiten noch bewusst aus Döner, Pizza und Dosenravioli, ernähre ich mich heutzutage als Erwachsener unbewusst bio, regional und fair-trade. Das Salz in der Küche stammt nicht mehr aus dem Discounter, sondern aus dem Himalaja und kostet pro Gramm mehr als anständiges Koks. Statt Maggi würze ich mit Koriander und esse Salatsorten, die früher noch als Unkraut galten…

Insbesondere beim Thema Wein wird der Unterschiede zwischen Jung und Alt deutlich. Mit Zwanzig unterschied ich wie die Meisten nur Flasche von Pappkarton und vielleicht auch noch Weiß von Rot. Meine Kaufentscheidung richtete sich nach dem billigsten Preis oder dem hübschesten Etikett. Mit über Vierzig kennt man Rebsorten, Anbaugebiete und Tannine und weiß, was ein Dekanter ist. Alles ist unnötig kompliziert, seitdem Weine atmen müssen, nicht mehr mit Cola gemischt werden und nur noch aus bauchigen Kristallgläsern statt aus alten Senfgläsern getrunken werden dürfen…

Als Erwachsener hat Mann nicht nur graue Haare und ein gestörtes Verhältnis zur Körperwaage, man gibt auch ohne Scham offen zu, auf Tupperpartys zu gehen, sich im Fernsehen den Bergdoktor anzuschauen und ganze Urlaubstage in Möbelhäusern zu verbringen, um Sofakissen zu finden. Man besitzt nicht nur Geräte wie Nasenhaarschneider, Heizluftfritteuse und Ultraschallbad für Brillen, sondern man benutzt diese auch. Was waren das früher für schöne Zeiten, als man noch Eiskrem im Supermarkt kaufen durfte und nicht wie heute Sorbet im Thermomix selbst machen muss…

In jungen Jahren war man genügsamer. Damals gab es nur drei Arten von Schmerzen: Solche nach Alkohol, solche nach Schlägereien und solche nach Trennungen. Als Erwachsener von heute kennt man allein 37 Arten von Kopfschmerzen. Vor allem aber glaubt man, dass man einen Backofen mit 18 Grill-Stufen und ein Fleischthermometer mit Smartphone-App braucht. Wo früher ein Zweiplattenherd genügte, muss es heute eine individuell geplante Küche mit Dampfgarer, A+++-Kühlschrank und sprechender Spülmaschine für 20.000 Euro sein, obwohl man weder kochen mag noch kann…

Dass man im Alter wie die eigenen Verwandten wird, die man als Kind immer so spießig fand, merkt man vor allem beim Feiern. Früher erschien man erst spätabends auf einer Fete, drückte dem Gastgeber wortlos eine Flasche Wein mit hübschem Etikett in die Hand und suchte nach einem freien Platz, einem kaltem Bier und einem heißen Mädel. Zu essen gab es Schinkennudeln von Mutti auf einem Plastikteller und für Vegetarier nichts. Veganer waren noch nicht erfunden. Man unterhielt sich mit guten Freunden über Studium, Freizeitparkbesuche, Fußball oder die dicken Brüste der Freundin des besten Kumpels und endete nach zu viel billigem Wodka kotzend auf der Toilette…

Mittlerweile beginnen Feiern um 19 Uhr. Statt Geschenk wird eine Spende ans Tierheim erwartet. Man bringt dem Gastgeber dennoch eine Flasche Bordeaux mit, die man mit vielen Worten über samtige Tannine überreicht. Es gilt Tischkarten, wohltemperierten Rosé und das einzige heiße Mädel ist eine Achtjährige mit Fieber. Die handgemachte Pasta des Partyservices wird auf teurem Porzellan serviert, ist glutenfrei und für alle geeignet, die Allergien haben oder Dörte heißen und Veganer*in sind. Man unterhält sich mit flüchtigen Bekannten über Job, Arztbesuche, Golf oder den dicken Babybauch der Frau des einst besten Kumpels und endet nach zu viel teurem Wasser mit Durchfall auf der Toilette…

Im Alter muss halt alles perfekt sein. Erst recht Feiern, da ungewiss ist, ob die nächste nicht vielleicht schon die letzte ist. Es kann doch aber nicht normal sein, dass man heutzutage Mitte der Vierziger körperlich und geistig schon so in Schutt und Asche liegt wie Deutschland damals zur gleichen Zeit. Vielleicht doch Sport machen? Bewegung ist im Alter wichtig. Laufen zum Beispiel oder sogar noch einmal Fußball? E-Sport zählt ja mittlerweile auch als vollwertiger Sport. Ich fange einfach mal mit FIFA 23 auf der PlayStation an. Alter-na(t)iv-los… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Man ist spätestens dann erwachsen geworden, wenn man Müll nicht mehr macht, sondern trennt.

Bittere Pillen

Mit dem Glauben ist das so eine Sache. Die eine Religion verspricht einem einen gesunden Geist und Körper durch regelmäßiges Beten, eine andere durch regelmäßige Meditation und wieder eine andere durch regelmäßiges Zahlen von Kirchensteuern. Stärker als jeder Glaube an irgendeine Religion ist jedoch der Glaube, der uns vierblättrige Kleeblätter suchen und an Freitagen, die auf den 13. eines Monats fallen, am liebsten im Bett bleiben lässt: der Aberglaube. Während der Glaube Berge versetzen kann, schafft es der Aberglaube, ganze Welten aus ihren Angeln zu heben…

Längst haben sich Internet und Shoppingkanäle im Fernsehen der Abergläubigkeit vieler Menschen angenommen und bieten Gesundheit für Körper und Geist auf Bestellung zum Sparpreis. Was einmal mit linksdrehenden Joghurtkulturen begann, die zur Balance von Körper und Geist, vor allem aber derjenigen des Darms beitragen sollten, hat sich zu Körperessenzen mit Einhornstaub, am Erdmagnetfeld ausgerichtete Kräuterbadematten und Hausschuhe für das individuelle Sternzeichen weiterentwickelt. Kaum zu glauben, an was man mittlerweile glauben kann, soll oder sogar muss…

Jeder kennt jemanden, der an Wünschelruten, Edelsteinkräfte und heilende Tänze glaubt. Ich selbst bin da eher skeptisch, da ich mir nicht vorstellen kann, dass es mir bei einer Grippe besser geht, wenn ich mir einen Amethyst unters Kopfkissen lege oder Feng Shui hilft, wenn ich mir mit dem Hammer auf den Daumen gehauen habe. Auch wenn die Schulmedizin den Placebo-Effekt kennt, der beweist, was bloße Vorstellungskraft bewirken kann, vertraue ich bei Krankheiten lieber bunten Pillen forschender Pharmaunternehmen als Wadenwickeln aus Herbstlaub. Placebo ist für mich etwas fürs CD-Regal…

Das sehen einige Frauen aus meinem Freundeskreis jedoch völlig anders. Ob Migräne, Sonnenbrand, Verhütung oder ein Fuß im Rasenmäher, sie vertrauen der Wirkung von Globuli, kleinen weißen Kügelchen, die als homöopathisches Universalheilmittel voll im Trend liegen. Bei jeder Gelegenheit zücken sie ihr Mäppchen, in denen Röhrchen mit stecknadelkopfgroßen Streukügelchen auf ihren Einsatz zur Rettung der Welt warten. Hat eine Frau Bauchschmerzen, möchte aber Sex, helfen Globuli. Hat eine Frau keine Lust auf Sex, aber auch keine Bauchschmerzen, helfen Globuli ebenso…

Egal welche Beschwerde, es gibt das passende Zuckerperlchen zur Behandlung. Ob Depressionen, Haarspliss oder nervende Schwiegereltern, mit Globuli alles kein Problem. Die Dosierung ist einfach: Einfach fünf Kügelchen auf der Zunge zergehen lassen. Gerne auch ein paar mehr oder weniger, ganz nach eigenem Glauben. Das erspart lästiges Lesen von Packungsbeilagen und Tierversuche. Schließlich ist die Wirkung von Zucker auf den Menschen durch Verabreichen von Bonbon-Halsketten an Probanden im Alter zwischen 5 und 15 auf Kirmes und Kindergeburtstagen seit Jahren erprobt…

Mit Homöopathie hatte ich nie etwas zu tun, schließlich wurde ich anständig und katholisch erzogen. Da wandte man sich bei Schmerzen allenfalls an den lieben Gott oder den heiligen Aspirin von Bayer. Globuli waren mir daher lange unbekannt. Zunächst hielt ich das Wort für die Pluralform von Globus nach neuer Rechtschreibung. Für mich bleibt nach wie vor schwer vorstellbar, dass Lutschbonbons, die nicht einmal für frischen Atem sorgen, wirkungsvoller sein sollen als Mittel, die an Generationen von Ratten getestet wurden. Erlaubt ist jedoch das, was hilft. Und helfen tut das, an was man glaubt…

Schlafstörungen? Einfach ein paar Globuli und eine Flasche Schnaps. Schon schläft man tief und fest. Pickel? Angst vor Gewittern? Kein Zucker für den Kaffee? Kein Problem dank der weißen Kügelchen. Im Nu ist das Leben wieder süß. Auch bei Kindern sind Globuli einsetzbar. Mädchen können sich so frühzeitig daran gewöhnen, wie wichtig die richtige Pille zur richtigen Zeit ist. Wer davon überzeugt ist, dass Süßstoff sogar Krebs heilt, kann sich seinen Lebensabend gerne versüßen, darf sich am Ende aber nicht beschweren, wenn er sich schon in jungen Jahren die Radieschen von unten betrachtet…

Belladonna, Bellis Perennis, Hamamelis Virginiana, was klingt wie Namen von Pornodarstellerinnen sind Globulisorten. Rhus Toxicodendron hört sich für ein Allheilmittel einfach besser an als Giftefeu. Globuli mit Arnica sollen Linderung bei blauen Flecken verschaffen und sind damit genau richtig für die Hausapotheke, wenn das Töchterchen mal wieder vom betrunkenen Papi die Treppe herunter gefallen wurde. Globuli mit Gänseblümchen helfen bei Hämatomen, was Frauen bestätigen können, die zuerst von ihrem Freund verprügelt wurden und dann zur Versöhnung Blumen bekamen…

Früher hätte man Homöopathen als Hexen und Zauberer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der einzige Haufen, den man heute für sie auftürmt, ist aus Geld. Menschen investieren Vermögen in Globuli, Bachblüten und Schüssler-Salze in der Hoffnung, gesünder sterben zu können. Das homöopathische Wirkungsprinzip dabei: Ähnliches mit Ähnlichem heilen. Gegen Orangenhaut wären demnach Globuli auf Zitrusbasis richtig, gegen Übergewicht solche aus Fett. Gleiches mit Gleichem bekämpfen? Hilft gegen Bienenstich dann nur Bienenstich? Wenn ja, dann mit oder ohne Sahne…

Globuli sind so ein bisschen wie Gott. Beide helfen nur, wenn man an sie glaubt. Und der Glaube, dass Kugeln gegen Probleme helfen, ist spätestens seit dem Wilden Westen fest in uns verankert. Dennoch werfe ich lieber Medikamente mit möglichst langen Wirkstoffnamen ein als zu hoffen, dass Lutschbonbons nicht nur für Karies, sondern auch für Linderung sorgen. Wenn aus Rohrzucker bestehende Globuli wirklich gegen Kopfschmerzen helfen würden, dürfte ich nach fünf Caipirinhas eigentlich keinen dicken Schädel bekommen? Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Bittere Pillen… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Warum sollten gerade Globuli mit Extrakten aus Gänseblümchen bei einem blauen Auge helfen? Wären solche mit Extrakten aus Veilchen dafür nicht besser geeignet?

Leben am Limit

Gesunder Menschenverstand hat schon oft weitergeholfen. Es gibt aber Gelegenheiten, bei denen einem auch Verstand nicht hilft: Bei der Einkommenssteuererklärung zum Beispiel oder bei Diskussionen mit dem eigenen Chef.

Als mich kürzlich wieder einmal die Langeweile packte und ich daher im Esszimmer mein Campingzelt aufbaute, stieß ich auf der Suche nach den Überbleibseln, die ich beim letzten Zusammenbau im Zelt vergessen hatte, dieses Mal nicht auf eine stark in die Jahre gekommene Banane, sondern auf einen Zettel des Zeltherstellers, der mehrsprachig anmahnte, bei der Zeltbenutzung doch die „Regeln des gesunden Menschenverstandes“ zu beachten…

Ich war offen gestanden verwundert: Bei einer Kettensäge oder einem Milchaufschäumer hätte ich eine solche Warnung verstanden. Schließlich sorgen diese Geräte durch falsche Handhabung immer wieder für schlimme Unfälle und Verstümmelungen. Aber bei einem Zelt? Welche Gefahr geht denn von einem handelsüblichen Zwei-Personen-Zelt aus? Außer dass man darin von Moskitos zerstochen wird und bei nächtlichen Toilettengängen über die Abspannschnüre stolpert…

Auch wenn sich Deutschland in der PISA-Studie mittlerweile verbessert hat, scheinen wir noch längst nicht so weit zu sein, dass man uns zutraut, ein Campingzelt benutzen zu können, ohne dabei größere Schäden davonzutragen oder einen Weltuntergang zu verursachen. Eigentlich sollte ein Igluzelt aus dem Discounter niemanden vor größere Probleme stellen: Auspacken, aufbauen, hineinlegen, Kreuzschmerzen, fertig…

Das erfordert weder einen Doktortitel noch ein Y-Chromosom und nicht einmal mehr viel Geschick, seit es Zelte gibt, die man zum Aufbauen einfach in die Luft wirft und die man nach ihrer Benutzung noch auf dem Campingplatz in den Müll wirft. Da man sie zum einen nicht wieder auseinander gebaut, geschweige denn in ihre Verpackung zurückbekommt. Und da man sie zum anderen wegen all der Moskitostiche und Kreuzschmerzen sowieso kein zweites Mal mehr freiwillig benutzen wird…

Wieso also der Hinweiszettel? Hat sich wirklich jemand zum Grillanfeuern im statt vorm Zelt hinreißen lassen und daraufhin sich samt Campingplatz in Schutt und Asche gelegt? Haben die Hinterbliebenen danach dem Zelthersteller die Schuld für dieses Barbecue gegeben, weil in der Bedienungsanleitung des Zelts nicht erwähnt wurde, dass man umgeben von Polyester kein offenes Feuer machen darf? Falls ja, wäre auch die Tupperparty-Tante Schuld, wenn nicht schmeckt, was man eingedost hat…

Mit dem Verstand ist es bei Menschen wie mit einem Vertrag fürs Fitnessstudio: Ihn zu haben, heißt nicht, ihn auch zu nutzen. Eigentlich sollten banale Dinge wie das Reißverschlussverfahren und das Blinken beim Autofahren oder das Pinkeln im Sitzen eine Spezies, die auf den Mond geflogen ist und das Yps-Heft erfunden hat, im Alltag vor keine allzu großen Herausforderungen stellen. Die Wirklichkeit belehrt uns tagtäglich jedoch eines Besseren…

Wie Emus im Laufe ihrer Entwicklung das Fliegen verlernt haben, haben wir Menschen die Fähigkeit verloren, instinktiv zu handeln. Seitdem uns das Internet mit vermeintlich genialen Lifehacks und Video-Tutorials überall und immer zur Seite steht, denken wir nur noch so weit, wie der Akku des Smartphones reicht. Da gerät man schon einmal in Panik, wenn die Wetter-App nicht funktioniert, da man vergessen hat, dass man auch mit einem Blick aus dem Fenster prüfen kann, ob es regnet…

Fragt man heutzutage einen Teenager, ob er seine Entscheidungen instinktiv trifft, wird er wohl vehement verneinen und entgegnen, dass er täglich duscht und Deo benutzt. Genügte früher selbst einem nur wenig begabten Kind ein kurzer Griff auf eine Herdplatte, um zu lernen, was heiß bedeutet, hat ein vermeintlich hochbegabter Sprössling heutzutage bereits die halbe Hand verbrutzelt, bis er realisiert, dass der Geruch von knusprigem Fleisch nicht von der Dönerbude um die Ecke kommt…

Solch ein Nachwuchs erscheint dann später als Erwachsener auch mit einer abgeschraubten Armlehne beim Arzt, wenn er eine Stuhlprobe abgeben soll. Anders als wir Menschen folgen Tiere keinen Handy-Apps, sondern rein ihren natürlichen Instinkten. Abgesehen von Kröten, die sich nach der Uhr richten und gemäß den Krötenwanderungsschildern an Landstraßen strikt nur zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens die Fahrbahn überqueren…

In den USA hat der allgemeine Instinktverlust dazu geführt, dass alles – ob nun Zahnbürste, Glühbirne oder Panzerfaust – über eine Gebrauchsanweisung verfügt, die in einem kurzen Satz darauf hinweist, wofür das Produkt genutzt werden kann, und danach in einem 100-seitigen Anhang aufzählt, wofür nicht. Mit dazu gehört stets eine Liste an Körperöffnungen, in die der Artikel nicht eingeführt werden darf. Einziges was da noch fehlt, sind Gebrauchsanweisungen für Gebrauchsanweisungen…

Auch in Deutschland finden sich immer häufiger Beipackzettel, die Nutzer mit erhobenem Zeigefinger darauf hinweisen, dass kochendes Wasser heiß ist und sich eine Mikrowelle nicht zum Trocknen von Haustieren eignet. Im Neandertal lag einem Feuerstein noch keine buchdicke Gebrauchsanweisung bei wie heutzutage jedem Grillanzünder, die bebildert und in zehn Sprachen erklärt, wie man Feuer macht und wie besser nicht. Dennoch fackelte damals nicht gleich jede Höhle ab….

Ganz im Gegensatz zu heute, wo im Sommer andauernd irgendwo eine Gartensiedlung niederbrennt, weil jemand im Hinweis „In keinem Fall Spiritus zum Grillanzünden verwenden“ ein „in jedem Fall mit reichlich Spiritus“ gelesen hat. Für unsere Arterhaltung sind Warnungen überlebenswichtig, dass Mixer nicht für Fußmassagen und Föhne nicht für die Badewanne geeignet sind. Ohne Packungsbeilage würden Fieberzäpfchen wohl auch den meisten zwischen den Zähnen kleben…

Anders als in den USA ist es bei uns jedoch nicht möglich, die eigene Dummheit auf andere zu schieben und zum Beispiel einen Sägenhersteller auf zehn Trilliarden Dollar Schadensersatz zu verklagen, weil er nicht schriftlich darauf hingewiesen hat, dass man eine Kreissäge nicht zum Schneiden von Fingernägeln verwenden darf. Im Vergleich zu den Amerikanern sind wir Deutsche keineswegs schlauer, sondern einfach mit neun Fingern nur weniger reich…

Betrachtet man die wachsende Zahl an Bundesbürgern, die sich jedes Jahr beim Benutzen ihrer Zahnbürste Verletzungen von Mund, Augen oder After zufügen, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis auch bei uns auf Toilettenpapier stehen muss, dass dieses nur einseitig benutzt werden sollte und nicht für die Waschmaschine geeignet ist. Allein der Hinweis auf Kokosnüssen, dass die Schale vor dem Verzehr zu entfernen ist, sollte einen nachdenklich stimmen…

Weiß ein Großteil von uns wirklich nicht mehr, dass beim Essen eines Eis-am-Stils am Ende ein Stück Holz übrig bleiben muss? Vielleicht ist es da gar nicht so übel, dass sich heutzutage sogar auf der Bügeleisen-Verpackung der Hinweis befindet, dass Kleidung nicht geglättet werden darf, solange sie noch getragen wird, und auf Tiefkühlpizza-Schachteln der Hinweis steht, dass die Plastikfolie vor der Zubereitung entfernt werden muss…

Aber mal ehrlich: Wer nicht genug Menschenverstand hat, um so etwas von sich aus zu wissen, der hat auch nichts Besseres verdient als eine Gummipizza und verbrannte Nippel! Wenn ich es mir recht überlege, war der Hinweiszettel in meinem Zelt vielleicht doch gar nicht so überflüssig, sondern eher sogar zu klein. Vielleicht sollte man die Warnung zukünftig besser gleich quer auf die Zeltplane drucken. Leben am Limit… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Steht für Allergiker in der Gebrauchsanweisung für Herrenunterhosen eigentlich schon: „Kann Spuren von Nüssen enthalten“?

Aschenputtel und der böse Wolf

Letztens hatte ich wieder einmal so ein Schlüsselerlebnis. Also keines mit verschlossener Haustür und klingeln beim Nachbarn, um den Ersatzschlüssel zu holen, sondern eines mit Kindern. Schon wieder so eine Kolumne über Kinder, werden jetzt manche denken. Dabei hat dieser Patrik Wolf doch gar keine. Was auch stimmt und vielleicht daran liegen könnte, dass die Natur meinen Genpool mit Hang zu nicht enden wollenden Kettensätzen als nicht geeignet ansieht, um in die Welt hinaus getragen zu werden, in der ein Tweet nur 280 Zeichen haben darf. Oder eben daran, dass sich Licht im Schlafzimmer über die Jahre als sehr wirksame Verhütungsmethode erwiesen hat…

Zwar will ich nicht ausschließen, dass da irgendwo zwischen Besch und Bottrop ein kleiner Wolf mit Hang zu Kettensätzen ist, allerdings weiß ich über dessen Existenz nichts, meint mein Anwalt. Schließlich rieb man zu der Zeit, als ich noch mit stolz geschwellter Brust und noch stolzer geschwellter Hose um die Häuser zog, um Mädels kennenzulernen, noch nicht jedem, dessen Zunge sich in den eigenen Mund verirrte, gleich ein Instagram-Profil unter die Nase und lud ihn damit dazu ein, seine Talente als Stalker zu beweisen. Wer sich damals wiedersehen wollte, gruschelte sich auf StudiVZ an und lauerte nicht nach der Disko hinter einem Gebüsch. Das waren noch andere Zeiten…

Viele Menschen stehen Freunden, die keinen Nachwuchs haben, kritisch gegenüber, wenn diese eine Meinung zur Kindererziehung haben und diese auch offen aussprechen. Es gilt als ungeschriebenes Gesetz, dass Ansichten Kinderloser zum Thema Erziehung ebenso unpassend sind, wie Ansichten Blinder zum Thema Wandfarbe. Während beim Thema Atomkraft auch all denjenigen eine Meinung zugestanden wird, die selbst kein Atomkraftwerk haben, ist das beim Thema Kinder anders. Hier gilt auch im 21. Jahrhundert noch der gesellschaftliche Konsens, dass alle zu schweigen haben, bei denen auf der Lohnsteuerkarte kein Kinderfreibetrag eingetragen ist…

Ich sehe das anders. Wenn der achtjährige Noah meiner Schwägerin am Mittagstisch lautstark damit droht, keinen Bissen mehr zu essen, wenn das elterliche iPad nicht unverzüglich herausgegeben wird, bin ich die Ansicht, dass der kleine Despot hungern kann, bis seine Spielkameraden in Gandhi nennen. Oder zumindest bis zum Abendbrot, bei dem ich ihm dann Spinat vorsetzen würde. Kein Zucker, nur Selbstgekochtes mit viel Pastinake und zwischendurch allenfalls ein paar Dinkelkekse oder Cranberries. Diese hehren Vorsätze junger Eltern sind bewundernswert wie weltfremd zugleich und halten meist nur so lange, wie Mami und Papi ohne gesunden Schlaf auskommen…

Ich will ja nicht sagen, dass meine Eltern mich in jungen Jahren mit Schokolade und Limonade alleine ließen, wenn ich dafür Ruhe gab und es ihnen nach einem stressigen Tag die Möglichkeit eröffnete, etwas Zeit zu haben, um auszuruhen, zu lesen oder einfach einmal ungestört zur Toilette zu gehen. Aber es war nun einmal so. Wenn ich damals zwischendurch hungrig war, gab es einen Keks aus der Prinzenrolle oder eine Milchschnitte, die mehr Kalorien hatten als Würfelzucker. In den 1980ern war in Milchschnitte sogar noch Alkohol enthalten, was mich bei meinem damaligen Konsum wohl beim Dreiradfahren den Führerschein gekostet hätte, wenn ich bereits einen gehabt hätte…

Natürlich geht es nicht ohne Kinder. Zumindest aus evolutionärer Sicht und wenn man davon ausgeht, dass die Spezies Homo sapiens weiter existieren möchte. (Was aktuell zunehmend schwieriger zu glauben ist). Aber es gibt nun einmal Orte, an denen es mit Kindern keinem Spaß macht; weder Eltern, noch den Kindern, noch anderen. Selbst Helikoptereltern, die für gewöhnlich ohne den kleinen Mats oder die kleine Charlotte im Schlepptau nicht einmal zum Briefkasten gehen, kämen nicht auf die Idee, Sohnemann oder Töchterchen mitzunehmen, wenn sie der alten Zeiten wegen nach Jahren ununterbrochenen Stillens das erste Mal wieder in einen Swinger-Club gehen…

Bei Wellness-Hotels ist das leider anders. Unlängst so geschehen, traf ich in einem selbigen auf ein Pärchen Anfang 30 mit ihrer etwa dreijährigen Tochter, die für jeden gut hörbar wenig Lust auf die Spitzengastronomie des Hotelrestaurants hatte, sondern vielmehr auf Nudeln mit Soße und ein Dinosaurierpuzzle. Was nicht nur das Personal als vielmehr die Eltern auf eine harte Probe stellte. Sichtlich überfordert und resigniert ob der Tatsache, dass „Mariechen“ nicht einmal Lust auf die mitgebrachten Cranberries hat, versuchten Papi und Mami die quengelnde Prinzessin von frischen Gnocchi mit Parmesan zu überzeugen, was für drei Dutzend Dinopuzzleteile auf dem Boden sorgte…

Wäre ich damals wie die Mariechens von heute gewesen, meine Eltern hätten mir als Nachspeise kein Eis versprochen, wenn ich aufhöre, lautstark Nudeln einzufordern, ich wäre ohne Essen ins Bett gebracht worden und hätte als Nachspeise allenfalls auf den Hintern bekommen. Gäste und Personal hätten es meinen Eltern gedankt und sie es sich selbst auch. Nur so hätten alle den Abend haben können, den sie sich vorgestellt hatten und den ich als Balg ihnen nicht ermöglicht hätte. Will sagen: Warum machen es sich Eltern mit kleinen Kindern so schwer, indem sie krampfhaft versuchen, Dinge, die nur als Paar Sinn machen, als junge Familie zu machen? Das kann doch nur schief gehen…

Zu dritt oder zu viert ist eben etwas anderes als zu zweit. Das ist nach der Geburt nicht anders als bei der Zeugung. Es wäre vermessen zu glauben, dass es nur ein paar überteuerte Beeren in Bio-Qualität und eine modische Wickeltasche braucht, um als Paar mit Kind so zu sein, wie man als Paar ohne Kind war. Mit der Geburt verändert sich mehr als nur Mamis Hüftumfang und Papis Lust auf Erwachsenenfilme. Es beginnt ein neuer Lebensabschnitt, in dem nichts mehr ist, wie es zuvor war. Das ist nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich ist nur, dass vielen jungen Eltern das wohl jemand sagen (oder besser gesagt schreiben) muss, der selbst keine Kinder hat…

Vielleicht sieht man außerhalb der eingetrübten Eltern-Bubble voller Windeln und Milcheinschuss einfach klarer. Es entbehrt jeglichen Sinn, mit Kindern über Schlafenszeiten zu diskutieren wie mit Kollegen über Weltpolitik oder es ihnen zu überlassen, ob sie gewickelt werden sollen oder nicht. Das legen Eltern fest und basta! Außer der Nachwuchs ist volljährig und zahlt Miete. Kinder kosten Nerven und eine Menge Geld. Und beides geben sie nicht in dem Umfang zurück, in dem Eltern es in sie investieren. Selbst wenn sie irgendwann einen gutbezahlten Job bekommen. Bei „Höhle der Löwen“ würde man wegen fehlender Rendite vom Kinderkriegen als Geschäftsmodell vermutlich abraten…

Und nein, ich bin nicht neidisch. Man braucht keine Kinder, um alt und dicklich zu werden. Es gibt für Kinderlose andere Ausreden, warum sie es nicht zum Sport schaffen. Um ehrlich zu sein: Das Leben ohne Kinder hat viele Vorteile. Es bleiben einem z.B. Elternabende erspart. Auch Kindergeburtstage machen deutlich mehr Spaß, wenn man der betrunkene Onkel ist, der nach Hause gefahren wird, und nicht der nüchterne Papi, der alle samt dem betrunkenen Onkel nach Hause fahren muss. Außerdem kann einem der Klimawandel egal sein. Man hat ja niemanden, dem man eine lebenswerte Welt hinterlassen muss. Und einen ruhigeren Schlaf mit mehr Platz im Bett hat man ohne Kinder auch…

Außer man hat Katzen. Mehrere Muschis im Bett haben nachts schon immer wach gehalten. Aschenputtel und der böse Wolf… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Nur Pateneltern ohne eigene Kinder schmuggeln Schnapspralinen in die Schultüte.

Mumienschieben

Es ist schon einige Zeit her, dass ein unachtsamer Neandertaler versehentlich in die Lagerfeuerglut trat und damit das Tanzen erfand. Seit damals gehört rhythmisches Körperbewegen auch außerhalb des Betts zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Jede Generation hat ihren Favoriten, wenn es darum geht, Hüften in Schwung zu bringen. Bei Mutti und Vati war es amerikanischer Rock’n’roll, bei Großtante und Großonkel Wiener Walzer und bei Oma und Opa polnischer Einmarsch. Jede Zeit hatte ihre Einfälle. Heutzutage heißt es zurück zu den Ursprüngen. Weg von festen Schrittfolgen, hin zum individuellen Tanzstil, der stark an das Gezappel und Gegröle damals auf der Glut erinnert…

Jedes Wochenende strömen Tanzwütige wie Ameisenvölker von cooler Musik und warmen Getränken angelockt in die Clubs, um den Stress der letzten Woche und das Gehalt des letzten Monats hinter sich zu lassen. Auf der Tanzfläche oder über der Toilette gilt es aus dem eigenen Körper rauszuholen, was sich an Energie oder Wodka-Energy angestaut hat. Zwischen frühreifen 15 und überreifen 55 ist unter den Besuchern alles zu finden. Wie Fliegen an einer Klebefalle winden sich alle auf der Tanzfläche, um dem anderen Geschlecht das Herz zu brechen oder zumindest die Füße. Der Mensch ist von seinen körperlichen Fähigkeiten her nicht fürs Fliegen gemacht. Fürs Tanzen aber auch nicht…

Aus dem Disco-Fever wird bei vielen ein regelrechter Fieberwahn. Sehen und gesehen werden, lautet die Devise im Club. Und das genau ist das Problem. Die Körperbewegungen, die die Blicke auf sich ziehen wie ein Hundehaufen die Fliegen, reichen von parkinsonähnlichem Zucken über Schüttelfrost bis zum epileptischen Anfall. Als Onkel Ede damals vergeblich versuchte, die Wespen von der Hauswand zu entfernen, bewegte er sich kaum anders. Das Kinn von John Travolta oder den Hintern von Jennifer Lopez zu haben, reicht eben nicht aus, um ein Tanzgott zu sein. Auch ich habe gleich viele Füße wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo und bin dennoch nicht so fußballbegabt…

Wer irgendwann einmal eine Tanzschule in der Hoffnung besucht hat, das dort Gelernte in einer Disko nutzen zu können, wird ebenso enttäuscht wie derjenige, der dem Mathelehrer in der Schule glaubte, dass man ohne Differenzialgleichungen nicht durchs Leben kommt. Pottwale wissen um ihre fehlende Tanzbegabung und bleiben Diskotheken daher meist fern. Anders ist das bei ähnlich übergewichtigen Metzgereifachverkäuferinnen nach der Firmenweihnachtsfeier und dem fünften Glas Prosecco. Auch wenn deren Foxtrott eher Elefantengetrampel ähnelt und die Eleganz beim Walzer der einer Walze gleicht. So lange niemand ernsthaften Schaden dabei nimmt, sei es jedem vergönnt…

Wer sich als Ü40er wie ich letztens nach Ewigkeiten und ein paar Bier zu viel in einen Club verirrt und überzeugt ist, an die eigenen dortigen Glanzzeiten anknüpfen zu können, der wird schlagartig nüchtern und vor die Frage gestellt: Ist man am Eingang irgendwo falsch abgebogen und auf einem Schulfest gelandet? Und wer ist dieser DJ Guetta, der scheinbar DJ Bobo aus der Playlist verdrängt hat? So müssen sich meine Eltern damals gefühlt haben, als sie an meinem achten Geburtstag auf meine durch Malzbier und Brausepulver aufgeputschten Freunde und mich getroffen sind. Nur dass es hier echtes Bier ist und das weiße Pulver nicht nach Waldmeister schmeckt…

Ich habe mich früher gefragt, wann der Punkt kommt, ab dem man sich erwachsen fühlt. In diesem Moment wusste ich zumindest, wann der Punkt gekommen ist, ab dem man sich alt fühlt. Als einer der nicht nur gefühlt Ältesten fällt es einem in einem Club sogar schwer, mit Alkohol Spaß zu haben. Sich Mädels schön saufen, damit hat man zwar gute Erfahrungen gemacht. Aber Mädels älter saufen? Wie soll das gehen? Wie bei Weinen in Discountern kommt man zwar auch bei Frauen in Diskotheken an junge Abfüllungen günstiger ran, als an ältere Jahrgänge mit Geschmack, für die man schon was investieren muss. Aber die Zeiten, in denen man nur Billiges aufgerissen hat, sind eigentlich vorbei…

Egal ob Wein oder Frau, manche sind süß, kleben dann jedoch zu viel an einem. Andere sind zu kühl, verbittert oder riechen muffig und sind daher ungenießbar. Wiederum andere hinterlassen unschöne rote Flecken auf der Esszimmertischdecke oder einen Pelz auf der Zunge. Menschen wie ich, die ihre Zwanziger schon im letzten Jahrtausend begonnen haben, finden sich heutzutage in Clubs irgendwie nicht mehr wohl. Wir sind es noch gewohnt, in einer Disko wegen des Zigarettenqualms nicht atmen zu können und nicht wegen des Schweiß- oder Parfumgeruchs. Dazu kommt das Problem, dass ein Großteil der Besucher die eigenen Kinder sein könnten und es ein Teil wohl auch wirklich ist…

Als die Welt noch analog war, war man nach einer heißen Diskonacht der festen Überzeugung, beim Knutschen einen guten Fang gemacht zu haben und bereute es, nicht nach der Nummer gefragt zu haben. Der Schlag traf einen damals erst dann, wenn man mit dem Aufriss von einem Diskofotografen eingefangen wurde und feststellen musste, dass zwischen Erinnerung und Foto zwei Promille und zwanzig Kilo liegen. In heutiger Zeit ist man Dank sozialer Netzwerke schneller auf einem Selfie verlinkt, das von Eltern und Freunden kommentiert wird, als man die Facebook- oder Instagram-Freundschaft wieder löschen und bereuen kann, nach der Nummer gefragt zu haben…

Vor allem Männer Ü40 sollten Clubs allenfalls noch in homöopathischen Dosen konsumieren. Für die Tanzfläche ist ihr Blutalkoholgehalt sowieso entweder zu gering oder zu hoch. Außerdem hat man in diesem Alter eh irgendwas an der Bandscheibe und sollte das mit dem Tanzen sein lassen. War man in jungen Jahren der Hahn im Korb, ist man jetzt das Chamäleon an der Wand und hängt in irgendeiner Ecke rum. Wer auf Partnersuche ist, sucht in diesem Alter sowieso lieber Singles und Akademiker mit Niveau im Internet, um nicht Gefahr zu laufen, jemanden im Club anzusprechen, mit dessen Mutter man altersmäßig schon im Bett gewesen sein könnte oder wahrscheinlich sogar war…

Ü30er- oder Ü40er-Partys können dieses Risiko zwar meist verringern, allerdings machen diese Feten so viel Spaß, wie statt beim Neuwagenhändler auf dem Schrottplatz nach einem Auto zu suchen. Warum Männer über Vierzig überhaupt noch in Diskos gehen? Warum denn nicht! In den Vierzigern geht es doch erst so richtig los. Das war mit Deutschland im letzten Jahrhundert auch so. Bis Samstag im Club. Mumienschieben… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Muss man eigentlich eine Karriere als Kirmesboxer oder Zuhälter hinter sich haben, um in einer Disko Türsteher zu werden? Oder reicht dafür ein Hochschulabschluss aus?

Alles auf Grün

Jeder weiß, dass man keine LKWs besitzen muss, um Laster zu haben. Seit jeher sind wir Menschen anfällig für Süchte: Schokolade, Zigaretten, Frauen, Händewaschen nach der Toilette… Fast jeder hat etwas, das er braucht, um der leidigen Blick in den Spiegel oder den ledigen Blick auf Steuerklasse 1 ertragen zu können. Um warm ums Herz zu haben, schwören manche auf Koks – die einen auf das schwarze, die anderen auf das weiße. Jedoch genügt auch das auf Dauer nicht, um glücklich zu sein. Jenseits der Vierzig stellen viele fest, dass das wahre Leben doch wenig mit dem zu tun hat, von dem man einst einmal hoffte, dass es sich erfüllt, bevor man irgendwann alt und über Dreißig ist…

Die Realität zeigt leider, dass nur die Wenigsten von uns Prinzessin oder Astronaut geworden sind. Um davon abzulenken, dass wir im Alltag gefangen sind und um unserem Leben einen vermeintlichen Sinn zu geben, flüchten wir uns in Ersatzhandlungen und Süchte. Der eine sucht sein Glück im Gewicht, ob auf der Hantelbank oder auf den Hüften. Der andere hofft auf Erfüllung in der virtuellen Realität, in der er dank Online-Rollenspiel Zaubermeister oder dank Bildbearbeitung zwanzig Kilo leichter sein kann. Wieder andere beginnen aus Verzweiflung, TikToks zu drehen oder eine Familie zu gründen. Goodbye Strandbar unter Palmen, willkommen Echtholzgartenmöbel unter Obstbaum…

Das Problem süchtiger Menschen war lange Zeit ihre Vereinsamung. Das Verbot der eigenen Drogen- oder Alkoholabhängigkeit öffentlich nachgehen zu dürfen, indem man sich mal eben beim Bäcker einen Schuss setzt oder im Büro eine Flasche Wodka leert, drängte Abhängige an den Rand der Gesellschaft. Dort ist es mittlerweile ziemlich eng geworden, seitdem immer weniger Menschen ihr Glück in Arbeit, Sport oder Bio-Obst suchen, sondern in der Sucht. Rauchern als Beispiel wurde längst das Recht genommen, in geschlossenen Räumen ihr Leben aktiv zu verkürzen und damit zum Funktionieren des Rentensystems beizutragen, ohne sich gleich vor den Zug werfen zu müssen…

Um neben Rauchern, Alkoholikern und Bild-Lesern nicht noch weitere Süchtige zu ächten, wurde ein wichtiger Schritt getan und eine große, aufstrebende Gruppe Abhängiger in die Gesellschaft integriert. Während manche im Bett nicht schlafen können, ohne zuvor im Halbdunkeln Chips ins Bett gekrümelt zu haben, verkrümeln sich Spielsüchtige im Halbdunkeln aus dem Bett, um mit Chips anderweitig ihr Glück zu finden: in Spielcasinos. War einst die Dunkelziffer derjenigen hoch, die von der Außenwelt abgeschottet über dubiose Online-Poker-Portale in den Ruin getrieben wurden, ist dank liberalisierter Glücksspielgesetze längst die Zeit angebrochen, die für Spielsüchtige ist wie vier Asse auf der Hand…

Seitdem es möglich ist, in jeder Baustellentoilette offiziell eine Spielhalle zu eröffnen, ist es gelungen, zuvor in einem Teufelskreis aus Einsamkeit und Pizzaservice gefangene Abhängige zusammen zu führen. Nicht länger müssen Spielsüchtige wortlos und apathisch vorm heimischen Computer sitzen, sondern können dies mit Gleichgesinnten in Spielotheken. Gerade Bankangestellte nehmen die Chance dankend an, ihr Talent, Geld zu vernichten, auch in der Freizeit nutzen zu können. Anders als Raucher, die wegen ihrer Sucht bei Minusgraden vor die Kneipen getrieben wurden, stehen Spielsüchtigen warme Zufluchtsorte zur Verfügung; zumindest so lange, bis die Kasse leer ist…

Gemäß der Devise „Asse für Assis“ wurde ein Pendant zu den versnobten Spielbanken geschaffen, in denen nur Zutritt hat, wer eine Krawatte und einen Job besitzt. Statt biederem Roulette und teurem Schaumwein aus Frankreich warten in den Industriegebiets-Casinos coole Automatenspiele und günstiger Landwein aus dem Tetra-Pak. Dank solcher Spielhallen ist es endlich möglich, auch in Trainingsanzug und Badelatschen seinem Glück zu begegnen; ganz ohne Privatparkplatz und Sternerestaurant im gleichen Haus, nur mit Bushaltestelle und Currywurstbude um die Ecke. Damit wurde ein großer Schritt getan, einarmige und zweiarmige Banditen zusammen zu bringen…

Es dürfte jeden Spielsüchtigen freudig in seine überschuldete Zukunft blicken lassen, wenn ihm beim Besuch eines dieser neonbeleuchteten Casinos bewusst wird, dass er nicht der Einzige ist, der schon am Monatsersten den ganzen Lohn in Spielautomaten investiert. Ein Banksparbuch bringt längst auch nicht mehr Rendite als ein Flipper-Automat. Und der blinkt, anders als ein ödes rotes Sparbuch, zumindest noch bunt und macht lustige Geräusche. Auch wenn man sich im Leben außerhalb der Automatenwelt alle Chancen verspielt hat, verbleibt innerhalb immer noch die Chance, dass nach dem nächsten Euroschein der große Jackpot wartet oder zumindest ein weiteres Freispiel…

Viele Städte haben mit den Automatencasinos und Sportwettenbüros das große Los gezogen. Endlich sind es nicht mehr nur türkische Schnellimbisse, die in leere Ladengeschäfte einziehen. Leider sind Spielhallen an Schulen und Spielplätzen verboten, was illegales Kniffeln in dunklen Schulhofecken begünstigt und immer mehr Fünftklässler ins zwielichtige Mau-Mau-Milieu abrutschen lässt. Dem könnte man mit Casino-Freistunden für Schüler bei guten Noten begegnen. Mit Blick auf die aktuelle Wirtschaftslage ist es schließlich ratsam, schnellstmöglich die nächste Zocker-Generation heran zu ziehen, die in die Fußstapfen der windigen Börsenspekulanten und Finanzmakler von heute tritt…

Auch wenn Suchtexperten das anders sehen: Glücksspiele gehören zum Leben. Das weiß jeder, der in einer Beziehung ist. Spielautomaten sind nicht anders als Frauen, vor denen uns Männer auch niemand schützt. Wie viele Frauen versuchen auch Casinos mit frisch verputzten Fassaden vom maroden Inneren abzulenken. Beide locken erst dann mit Erfolgsaussichten, wenn man sie mit Geld füttert. Und nur in wenigen Fällen halten sie schlussendlich, was sie versprechen und erfüllen die Wünsche desjenigen, der an ihren Knöpfen spielt. Bis zur großen Enttäuschung bleibt jedoch stets die Hoffnung, dass irgendwann doch eine große Ausschüttung im Schoß landet. Meist ist jedoch Game-Over, bevor die Glocken läuten. Alles auf Grün… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Das beliebteste Glücksspiel der Deutschen ist Falschparken.

Ja? Nein? Jein!

Letztens zauberte die Boulevard-Presse im üblichen Sommerloch wieder einmal eine obskure Sekte aus dem Hut, die zum Jahresende den Weltuntergang prophezeit. Nie war man näher daran zu glauben, dass an solch einer Meldung etwas dran sein könnte als in heutiger Zeit. Hier der dritte weltweite Pandemie-Herbst, dort der erste russisch-ukrainische Krieg und dazwischen das Zweite Deutsche Fernsehen mit einem Helene-Fischer-Konzert, das den Namen „Wenn alles durchdreht“ trägt und in dem die gute Helene uns wissen lässt: „Die Hölle morgen früh ist mir egal“…

Als wäre das nicht schon Anlass genug, sich Gedanken über das Leben, das Universum und den ganzen Rest zu machen, flatterte mir mit der Ankündigung des Weltuntergangs auch noch die Ankündigung einer Hochzeit ins Haus. Glücklicherweise nicht für meine eigene, dennoch kaum weniger erfreulich. Heiraten, das ist wie das Geschlecht wechseln oder Veganer werden eine Entscheidung, nach der das Leben nie mehr sein wird, wie es vorher war. Es mag Zufall sein, dass mich die Bekanntgabe beider Apokalypsen – Weltuntergang und Hochzeit – gleichzeitig erreichten. Aber ich glaube nun einmal zufällig nicht an Zufälle…

Wenn die Apokalypse schon so nah zu sein scheint wie nie zuvor, warum muss ein Mann sich dann kurz vorher noch durch eine Heirat in den Suizid stürzen? Der Teufel wird einem die Hölle noch früh genug heiß machen. Da braucht es vorher nicht noch eine Ehefrau, die das tut. Andererseits wird eine Ehe geschlossen, bis der Tod sie scheidet. Und da man den Weltuntergang kaum überleben dürfte – zumal wenn man statt Geld stets Einkaufswagen-Chips in die Kirchenkollekte geworfen hat – ist das „Ja“ kurz vor der Apokalypse für einen Mann wohl die einzige Möglichkeit, eine Ehe bis zum Ende genießen zu können…

Kein Mann möchte in Sachen Beziehung auf dem Abstellgleis landen, wenn seine Freunde ihn in Richtung Familie überholen. Aber unausweichlich mit Volldampf auf einer Strecke mit letztem Haltepunkt Ehe auf den Abgrund zurasen? Das Traurige an einer Heirat ist nicht einmal das Männerschicksal, dass aus den Eheringen von heute die Handschellen von morgen werden, und dass mit dem „Ja, ich will“ ein einstiger Puma kastriert und zum Schmusekater dressiert wird. Das Schlimmste – zumindest für mich als Freund des Bräutigams – ist der Junggesellenabschied, von dem man als alter Freund leider nicht fernbleiben kann…

Nüchtern betrachtet hat niemand Lust, eines seiner wenigen freien Wochenenden mit einem Haufen Typen zu verbringen, die er entweder nicht kennt oder am liebsten nicht kennen würde. Nur um einem Freund die letzte Ehre zu erweisen und vorzugaukeln, dass sich an seiner Freiheit und an der Männerfreundschaft nach der Heirat nichts ändern wird. Genauer betrachtet sind vermeintlich lustige Junggesellenabschiede nichts anderes als Trauerspiele ohne Happyend. Als würde man mit einem zum Tode durch den Strang Verurteilten bei dessen Henkersmalzeit ausmachen, auch zukünftig weiter gemeinsam abzuhängen…

Was Männerfreundschaften angeht, ist eine feste Beziehung bis zur Hochzeit noch wie offener Vollzug, bei dem Mann bei guter Führung zweimal im Jahr mit anderen Inhaftierten bis Mitternacht Freigang bekommt. Mit dem Verlassen des Standesamtes wird daraus Einzelhaft mit Sicherheitsverwahrung in einem Beziehungsverlies, in dem es keine Möglichkeit mehr gibt, auf Anrufe oder Nachrichten von Kumpels zu reagieren. Kronzeugen, die gegen die Mafia ausgesagt und eine neue Identität bekommen haben, dürfen mehr Kontakt zu alten Freunden haben als ein Mann, der die Steuerklasse 1 verlassen hat…

Dass sich mit einer Ehe etwas ändert, sehen die anderen aus der Männergruppe, mit der ich mich einige Wochen nach der Hochzeitsankündigung auf dem Junggesellenabschied befinde, nicht so. Was wohl daran liegen mag, dass auch sie bereits zum Ja-Wort genötigt wurden. Sie bestehen darauf, dem scheidenden Junggesellen einen würdigen Abschied mit Alkohol und Strapsibar zu bescheren. Denn für Verheiratete wie sie sind Junggesellenabschiede die einzige Möglichkeit, noch einmal den stehend pinkelnden Hengst von früher raus und den Wallach von heute zuhause zu lassen, der nur noch feuchtes Toilettenpapier benutzt…

Um nicht Gefahr zu laufen, im Suff statt heißer Miezen unterkühlte Kühe anzuflirten, die die Braut kennen, steigen Junggesellenabschiede zumeist fern der Heimat in Köln, Düsseldorf oder einer anderen Stadt, in der Mann auf Frauengruppen hofft, die gleichgesinnt um die Häuser ziehen, um sich das andere Geschlecht schön zu saufen und ihr Alltagsleben zu verdrängen. Auf der Bummelbahnfahrt dorthin, auf der man jeden Dorfbahnhof der Eifel kennenlernt, bleibt einem als Mitfahrer genug Zeit sich zu fragen, wie viel Alkohol es wohl brauchen wird, damit man sich am Folgetag an nichts mehr erinnern muss…

Aus Fernsehdokumentationen kennt man Wolfsrudel auf der Jagd. Diese sind nichts im Vergleich zu der Männergruppe, mit der ich an diesem Tag durch die Kölner Altstadt ziehen muss. Mein Alkoholpegel ist irgendwann zwar so hoch, dass ich mich nicht mehr fremdschäme, aber leider nicht so hoch, dass es lustig wäre. Wie Bluthunde ziehen die Familienväter um mich herum durch Kneipen auf der Suche nach Beute. Seit Überziehen des gemeinsamen Partyshirts ist jeder Anstand vergessen und das Hirn auf Standby. Und mit jedem Glas geht die Verwandlung vom leidigen Ehemann zum ledigen Supermann voran…

Egal was an einem solchen Abend passiert, der Ehrenkodex besagt, dass Stillschweigen bewahrt wird. Was vielen wegen ihres Filmrisses nicht schwer fällt. Ich fühle mich derweil wie in der Zombie-Apokalypse und überlege, alle um mich herum zu töten oder zumindest früher ins Hotel zu gehen. Ich habe Angst vor dem Moment, an dem auch mein Alkoholpegel so hoch ist, dass ich die MILFs auf der Tanzfläche attraktiv finde und mich am Morgen danach nicht wegen der vielen Schnäpse übergeben muss, sondern wegen der vielen Selfies mit der weiblichen B-Ware. Glück für denjenigen, der im Suff sein Smartphone verliert…

Ratsam ist es, bei Junggesellentouren seine Mitfahrer zu kennen. Im Mittelpunkt steht natürlich der baldige Göttergatte. Er ist der, dessen Ehe nie zustande kommen wird, wenn Details über den Abend bekannt werden. Er steht so lange im Mittelpunkt bis jeder der Mitfahrer eine weibliche Bekanntschaft gefunden hat und trägt nicht selten ein Kostüm, das ihn wie einen Riesenpenis aussehen lässt. Wegen seiner Aufregung hat er schon früh einiges intus, was dazu führt, dass er später nur aus sozialen Netzwerken erfahren wird, dass ihm in aller Öffentlichkeit seine Beine enthaart, Nägel lackiert und Nippel gepierct wurden…

Schuld an der ganzen Misere ist der Trauzeuge. Er ist der Tour-Organisator und verantwortlich dafür, dass der Bräutigam nicht schlafend auf der Diskotoilette vergessen wird. Er konnte die Heirat bislang nicht verhindern und sieht die Junggesellenfeier als letzte Chance. Er spricht Frauen an, die er nach eigenem Ermessen zum Küsschenverteilen an den Bräutigam weiter gibt oder selbst behält. Von den Frauen der JGA-Teilnehmer wird er später völlig unberechtigt für den einzigen der Gruppe gehalten, der anständig geblieben ist. Seine Erzählungen gelten zuhause – auch wenn sie frei erfunden sind – als die Wahrheit…

Nervig für alle ist der Miesepeter, ein alter Freund des Bräutigams, den man nicht zuhause lassen durfte. Er passt nicht zur Gruppe und will das auch nicht. Entweder weil er den Ort, die Musik oder sich selbst nicht mag. Er trägt als einziger kein Partyshirt und hat an allem etwas auszusetzen. Er ist derjenige, von dem alle froh wären, man würde ihn im Gedränge verlieren. Er verschwindet im Laufe des Abends meist irgendwann von selbst ohne Bescheid zu geben, taucht aber zum Frühstück leider wieder auf. Alle sind sich einig, dass er zuhause bleibt, wenn der Bräutigam noch einmal einen Junggesellenabschied brauchen sollte…

Besonders gefährlich ist jedoch der Stille. Es ist mit Braut oder Bräutigam verwandt, weswegen auch er mitgenommen werden musste. Er ist schüchtern und spricht noch weniger als er trinkt. Er macht Fotos, die auf der Tour niemand sehen darf, später aber in einer Videopräsentation für die Hochzeitsgesellschaft auftauchen. Bräutigam und Trauzeuge haben am Morgen danach meist arge Probleme zu verhindern, dass er von der Gruppe gelyncht wird, da er sich als einziger an jede Peinlichkeit erinnern kann und bereits aussagekräftige Fotos an die Braut gesendet hat, bevor alle aus dem Koma erwacht sind…

Ebendiese Mischung an Typen macht Junggesellenabschiede unerträglich. Und das Kopfweh am Tag danach. Ach wäre die Welt bloß schon vor dem letzten Bier untergegangen. Bis dass der Tod euch scheidet. Ja? Nein? Jein! … gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Das einzig gesetzlich nicht streng überwachte Glücksspiel ist die Ehe.

Zuhause mit Zombies

Immer wieder wurde die Menschheit von Krankheiten heimgesucht. Früher waren es Pest und Cholera, heute sind es Corona und TikTok. Auch wenn nach und nach Mittel gegen die meisten von ihnen gefunden wurden, ist es bislang nicht gelungen, eine der größten Gottesgeißeln auszurotten. Die Rede ist nicht von Covid, AIDS oder einem anderen Virus, sondern von einer Pandemie, die seit Menschengedenken täglich unzählige Opfer fordert. Wir sind ihr hilflos ausgeliefert, denn Impfungen gibt es nicht. Einzige Hoffnung ist, immun zu werden, sollte man sie überstanden haben. Sie kommt über Nacht und verändert Körper und Geist. Nach ihr ist nichts mehr wie es war: die Pubertät…

Neben der Dummheit ist die Pubertät die am weitesten verbreitete Seuche auf Erden. Sie bewirkt, dass aus süßen Kindern, die mit einem Dino im Auto sitzen und Vögel gerne mögen, in kürzester Zeit verbitterte Teenager werden, die mit einem Dildo im Auto liegen und gerne Vögeln mögen. Es scheint, als wären alle Regeln und Sitten, die einem die Eltern über Jahre beigebracht haben, von jetzt auf gleich weggeblasen und durch das Gegenteil ersetzt. Mütter werden bestätigen, dass die Schmerzen der Geburt nichts gegen die Schmerzen sind, die es zu erleiden gilt, wenn der eigene Spross in der Pubertät steckt, die der Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling gleicht; nur eben umgekehrt…

Alle Eltern sehen dem Tag mit Schrecken entgegen, an dem ihr Kind am Morgen das Haus mit einem Kaugummiautomatenring am Finger und einer Packung Tempos verlässt und es am Abend mit einem Metallring in der Nase und einer Packung Tampons wieder betritt. War der Streuselkuchen eben noch in der Pausenbrotbox des Nachwuchses, ist er plötzlich in dessen Gesicht. Bunte Kritzeleien auf den Armen von Sohnemann oder Töchterchen stammen auf einmal nicht mehr von Buntstiften, sondern vom Tätowierer. Gestern noch mit den Nachbarskindern auf der Wiese, heute schon mit ihnen auf Gras. Nur noch die Kinderfotos an der Wohnzimmerwand erinnern an glückliche Zeiten…

Wie Gremlins nach Kontakt mit Wasser verwandeln sich Menschen zwischen 13 und 15 über Nacht in Zombies. Was bei deren Eltern nicht selten die Frage aufwirft, ob ein Schwangerschaftsabbruch seiner Zeit nicht doch die bessere Alternative gewesen wäre. Mutter und Vater sind hilflos, wenn aus einem Traum von Kind von jetzt auf gleich ein Alptraum von Teenager wird. Man wünscht sich wie bei Dornröschen einen vergifteten Apfel, der das eigene Kind so lange schlafen lässt, bis es aus der Pubertät heraus ist. Wer täglich mit einem Clearasil-abhängigen Nachwuchstyrannen zu tun hat, versteht es, warum Jugendliche dieses Alters vor achtzig Jahren an die Front geschickt wurden…

Vergleicht man menschlichen Emo-Nachwuchs mit tierischem Emu-Nachwuchs, fällt auf, dass die Zahl australischer Laufvögel, die in jungen Jahren auf die Idee kommen, sich ihr Gefieder grell zu färben und Metallstifte durch den Schnabel jagen zu lassen, recht gering ist. Tätowierungen sind im Tierreich allenfalls bei jungen Katzen angesagt. Es überrascht, dass unsere Spezies es im Laufe der Evolution offenkundig nicht geschafft hat, den Übergang vom heranwachsenden zum ausgewachsenen Exemplar so zu gestalten, dass er für alle Beteiligten erträglich ist. Anders als Hundewelpen pinkeln pubertierende Teenager zwar nicht ins Wohnzimmer, dafür kotzen sie ins Bad…

Man kann dem pickeligen Nachwuchs jedoch keinen Vorwurf machen, dass er vom kuscheligen Welpen zum kratzbürstigen Werwolf wird. Schuld sind die Hormone, die ab der Pubertät unser Leben bestimmen. Sie machen aus elfengleichen Jungenstimmen etwas, was sich anhört wie eine gefrorene Katze unter der Kreissäge, und sorgen bei Mädchen dafür, dass die Entwicklung ihres Gehirns mit der ihrer sekundären Geschlechtsteile nicht mithalten kann. Fand man als Junge vor der Pubertät Mädchen doof, eingebildet und uninteressant, bewirken aufkochende Hormone, dass Jungs zwar nach wie vor Mädchen doof und eingebildet finden, aber plötzlich gerade deshalb interessant…

Der heimtückische Hormoncocktail versetzt Pubertierende in den Irrglauben, dass Gangster-Rapper ein veritabler Beruf sei. Es ist aber auch nicht einfach, tagsüber mit Konjugationen und nachts mit Ejakulationen zurecht zu kommen. Während Mädchen in der Pubertät ihren ersten BH bekommen, um fremde Blicke im Zaum zu halten, sind Jungen auf sich alleine gestellt, wenn sie im Sportunterricht mit der Latte zu kämpfen haben. Mit der Pubertät wird bei Mädchen ein Problem immer gewichtiger: ihr Körper. Es wird in ihrem weiteren Leben kein Tag mehr vergehen, an dem sie sich nicht darüber beklagen, dass Brüste oder Po entweder zu groß oder zu klein sind und nicht so wie bei Heidi Klum…

Waren damals im Kindergarten Ärztin oder Prinzessin noch angesagte Berufswünsche, sind pubertierende Mädchen überzeugt, Karriere als Instagram-Model machen zu müssen. Um entdeckt zu werden, posten sie nicht selten täglich neue Selfies, auf denen sie dank Muttis Schminke und dem richtigen Foto-Filter auszusehen glauben wie Mitte 20. Dabei erinnern ihr schräger Duck-Face-Blick und der vermeintliche Kussmund eher an einen Schlaganfall. Viele Eltern hoffen in dieser Phase, dass am Märchen vom hässlichen Entlein etwas dran ist, da die Modelkarriere der Tochter ohne digitale Fotobearbeitung allenfalls für eine Werbekampagne für Hundefutter ausreichen dürfte…

Doch was kann man nun wirklich tun bei der Diagnose Pubertät? Nichts. Man kann allenfalls frühzeitig überlegen, ob man sich statt Kindern vielleicht doch lieber einen Hund zulegt. Den kann man nach 12 bis 14 Jahren im Zweifelsfall einschläfern lassen oder an der Autobahn aussetzen, wenn er zu viel nervt. Außerdem lassen sich Hunde viel besser an die Leine legen und rufen nachts nicht an, wenn sie besoffen irgendwo aufgesammelt werden müssen. Und ständig das neuste Smartphone brauchen sie auch nicht. Zuhause mit Zombies… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Die sicherste Verhütungsmethode bei den meisten pubertierenden Teenagern ist ihr Aussehen.

Konsequent Kevin

Von Tieren können wir Menschen bekanntlich so einiges lernen. Von Eseln z.B. die Beharrlichkeit, eigenen Ansichten treu zu bleiben, auch wenn man an der kurzen Leine gehalten wird… von Hunden, dass man sich seinem Frauchen am besten unterwirft, wenn man den pelzigen Bauch gestreichelt bekommen möchte… von Katzen, dass man sich tagsüber besser unauffällig verhält, wenn man nachts um die Häuser gezogen ist… und von Walen, dass man sich auch mit Übergewicht neben dünnen Heringen an den Strand trauen kann. Was das Thema Erziehung des eigenen Nachwuchses betrifft, gehen die Meinungen über geeignete Vorbilder im Tierreich allerdings weit auseinander…

Während bei Großfamilien die Jungenaufzucht der eines Wolfsrudels gleicht, bei dem der Schwächste schon einmal Bisswunden erleidet, nimmt man sich in Kleinfamilien oft eher Glucken zum Vorbild und behält seine Brut möglichst lange unter den Fittichen, damit sie nicht zu früh flügge werden. Von allen Tierarten macht es jedoch wohl nur eine bei der Aufzucht ihrer Nachkommen wirklich richtig: die Meeresschildkröte. Sie legt ihre Eier nachts am Strand ab und verschwindet danach für immer. Ein Familienmodell, das uns Menschen eher fremd ist. Sieht man einmal von alleinerziehenden Müttern ab, die nach einem One-Night-Stand am Strand schwanger aus dem Ibiza-Urlaub zurück kamen…

Mit der Kindeserziehung ist das so eine Sache. Die Ansichten über das richtige Rezept und darüber, was hineingehört und was nicht, sind vielfältig wie bei Salatsoßen. Jeder hat eine eigene Mischung, wann mild und wann sauer besser passt. Wurden Kinder Mitte des letzten Jahrhunderts noch wie Einmachgläser auf Vorrat produziert, da klar war, dass das ein oder andere von ihnen über die Jahre verdirbt oder kaputt geht – Bohnen durch Glasbruch auf dem Boden, Buben durch Genickbruch auf dem Mofa – beschränken Paare sich heutzutage oft auf ein Kind. Wer einmal Plätzchen gebacken hat, weiß jedoch, dass man bei Erstlingswerken oft arge Mühe hat, dass diese gelingen…

Waren Kinder über Generationen dazu da, das fortzuführen, was ihre Eltern geschaffen hatten, sind sie mittlerweile eher dazu da, das fortzuführen, was ihre Eltern nicht geschafft haben. War man als Sohn oder Tochter einst in seiner Lebensplanung ziemlich eingeschränkt, da man den elterlichen Hof übernehmen musste, ist man es heute, da man den elterlichen Karrieretraum übernehmen muss. Ein Junge, der gern mit Bauklötzen spielt, wurde früher Maurer; ein Mädchen, das Pferde mag, wurde Tierpflegerin. Heutzutage muss es bei solchen Veranlagungen schon leitender Bauingenieur oder Tierärztin mit eigener Praxis sein, damit sich die Eltern in der Nachbarschaft nicht schämen…

Besonders begabt war in meiner Grundschulklasse damals niemand. Nicht einmal mein Lehrer. Heutzutage dagegen scheinen alle Kinder hochbegabt zu sein. Zumindest, wenn man ihren Eltern glaubt. Beim Gemüse im Garten wird noch akzeptiert, dass aus manchem Sprössling trotz akribischer Pflege bloß Unkraut wird. Der eigene Lenden-Spross muss jedoch in jedem Fall ein Prachtexemplar werden, um das einen jeder beneidet. Waren Eltern früher nach der Entbindung glücklich, wenn ihr Kind fünf Finger an jeder Hand hatte, sind sie mittlerweile enttäuscht, wenn ihr Nachwuchs die Anzahl seiner Gliedmaßen im Kreißsaal nicht gleich selbst in die Patientenakte schreibt…

Die Zeit der engsten Bindung zwischen Mutter und Kind sind schon längst nicht mehr die 40 Wochen der Schwangerschaft, in denen Sohnemann oder Töchterchen die Füße unter das mütterliche Herz stecken, sondern die 30 Jahre danach, in denen sie die Füße unter den elterlichen Tisch strecken. Früher hingen viele mit 18 Jahren noch am Rockzipfel der Mutter, aber niemand mehr an deren Brust. Das ist heutzutage schon einmal anders, wenn man das Beste für sein Kind möchte. War früher ein guter Schulabschluss und ein Lehrberuf Wunsch der Eltern, müssen es jetzt schon ein sehr guter Promotionsabschluss und ein Akademikerjob sein…

Früher achteten Eltern auf die Interessen ihrer Kinder, heute auf ihre eigenen. So wie die neue Couch zur Tapete passen muss, müssen auch Kinder zu den Eltern passen. Einfach wachsen lassen und sehen, was daraus wird, lässt man allenfalls noch das Basilikum in der Küche, nicht aber den eigenen Nachwuchs. Dabei ist es mit Kindern wie mit Früchten: Egal wie vorsichtig man sie anfasst, einige von ihnen werden faul. Andere sind von Natur aus weniger süß und die Wenigsten kann man ohne gründliches Waschen irgendjemandem vorsetzen. Während es bei Obst jedoch in Ordnung ist, wenn nicht alles beste Qualität ist, ist das beim eigenen Nachwuchs keineswegs so…

Eine Drei in der Schule befriedigt mittlerweile kein Elternteil mehr. Eine Vier ist nicht ausreichend und weniger als eine Zwei ist mangelhaft. Schon die Zwei ist enttäuschend. Niemand weiß das besser als Mutti, die mit Papi damals auch nur ihre Nr. 2 bekommen hat. Eltern wollen mit ihren Kindern prahlen. Die einen damit, dass ihr Sohn so schlau ist, dass er schon mit einem Jahr laufen kann; die anderen damit, dass ihre Tochter so schlau ist, dass sie sich mit drei Jahren noch tragen lässt. Wer früher vor der Einschulung mehr als seinen Namen schreiben konnte, wurde als Streber gehänselt. Heute gelten Kinder als zurückgeblieben, die mit Sechs lieber Fußball als Scrabble spielen…

Auch wenn kein zeugungsbereites Akademikerpaar ohne Literaturstudium und Befruchtungs-Guide zur weiblichen Ovulation auf dem Smartphone mehr an die Familienplanung geht, bleibt es in Sachen Kinderüberraschung in der Partnerschaft wie in Sachen Kinderüberraschung im Supermarkt: Man kann zwar versuchen, das Ei zu finden, das die eigenen Wünsche erfüllt, es wird sich jedoch erst im Nachhinein zeigen, ob darin nicht doch bloß ein Happy Hippo war. Ob Yoga, Meditation oder vegane Ernährung, auch wer in der Schwangerschaft nur Buchstabensuppe isst, erhöht nicht die Chancen, dass sein Nachwuchs eine Leseratte wird…

Viele Eltern würden ihre Kinder am liebsten nur sicher verpackt in Zorbing-Bällen vor die Türe lassen. Was für Uropa Stalingrad war, scheint in Sachen Gefährlichkeit für dessen Urenkel der Spielplatz um die Ecke geworden zu sein. Stand dort früher „Eltern haften für ihre Kinder“, müsste es heute „Eltern haften an ihren Kindern“ heißen. Eltern im Jahr 2022 haben bereits dann ein mulmiges Gefühl, wenn sie keine Winterreifen auf dem Kinderwagen und keine Desinfektionstücher dabei haben. Auch meine Eltern waren damals nicht erfreut, wenn ich statt Omas Kuchen denjenigen aus dem Sandkasten aß, riefen aber nicht gleich den Notarzt und ein Labor, um den Sand auf Schadstoffe zu untersuchen…

Früher galt das Gesetz des Stärkeren. Wer zu dick war, um auf ein Klettergerüst zu kommen, musste abspecken oder unten bleiben. Natürliche Auslese würde man in der Natur sagen. Heutzutage sorgt eine Elterninitiative dafür, dass auch adipöse Kinder zweimal wöchentlich per Hubwagen aufs Gerüst kommen, um nicht diskriminiert zu werden. Auseinandersetzungen wurden in meiner Kindheit noch mit einer Sandkastenschippe gegen den Kopf geregelt und nicht mit einem Sitzkreis unter Leitung eines Mediators. Erziehung war früher irgendwie einprägsamer. Dass der Küchenherd heiß ist, wurde einem da nicht durch eine Lern-App, sondern durch einen Selbstversuch beigebracht…

Mit Erfolg. Mein guter Freund Thorsten konnte sich schon früh an seinen acht Fingern abzählen, dass man mit der Hand nicht unter den Rasenmäher greift. Lernen durch Schmerz oder wie man heute sagen könnte: Konsequent Kevin…  gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Deutsche Eltern lassen ihre Kinder nur ungern aus dem Haus; österreichische Eltern nur ungern aus dem Keller.

Alles gelogen

Pinocchio tat es alle Nase lang, aus der Politik ist es nicht wegzudenken und in einer Beziehung rettet es ab und an vor dem Nudelholz. Manche tun es ständig und mit Absicht, andere nur im Ausnahmefall und notgedrungen. Die einen haben Talent dazu, anderen merkt man direkt an, dass sie es nicht können. Wissenschaftler sagen, manche von uns täten es bis zu zweihundert Mal am Tag, auch wenn das sicher gelogen ist. Einige bekommen davon feuchte Hände, andere werden nicht einmal rot. Jedoch jeder, der dabei ertappt wird, ist peinlich berührt. Die Rede ist hier nicht von Sex oder Selbstbefriedigung, sondern vom Lügen…

Reden ist Silber und Schweigen ist bekanntlich Gold. Noch weit wertvoller als im richtigen Moment die Klappe zu halten, ist es jedoch, zum passenden Zeitpunkt eine gute und glaubhafte Ausrede parat zu haben, die einen vor Schlimmerem bewahrt. Wer vorgibt, niemals zu lügen, der lügt. Da es sich, wie wir als Kind gelernt haben, aber nicht gehört, zu lügen, bezeichnet man kleine Unwahrheiten, die man hin und wieder verbreitet, viel lieber als Ausreden oder sieht sie als alternative Fakten an. Der Unterschied zur Lüge? Keiner! Aber wer gibt schon gerne zu, zu lügen? Ausreden dagegen sind okay und alternative Fakten liegen sogar voll im Trend…

Wie Verdauung, Steuererklärung und der Tod gehört auch das Lügen zum Leben und ist so alt wie die Menschheit selbst. Hätte Adam damals auf Evas Frage ehrlich geantwortet, ob sie schön sei, die Geschichte im Paradies wäre vermutlich anders verlaufen. Wer sagt der einzigen Frau weit und breit schon freiwillig ins Gesicht, dass ihr Hintern zu dick ist und man lieber warten würde, bis Gott eine verbesserte Version erschaffen hat? Statt ehrlich zu antworten, wird Adam damals – wie noch heute jeder Mann bei einer solchen Frage – so etwas entgegnet haben wie „Du bist für mich die einzige Frau auf der Welt!“ und sich danach geschworen haben, nie wieder in einen Apfel zu beißen…

Ehrlichkeit ist im Leben richtig und wichtig, manchmal ist Lügen jedoch richtiger und wichtiger. Geht es nach einer durchzechten Nacht am Morgen darum, dem Chef am Telefon mitzuteilen, dass man nicht zur Arbeit erscheint, ist eine Notlüge weit weniger jobgefährdend als die Wahrheit. Wer flunkert, dass er nicht ins Büro kommen kann, da er mit seiner Katze zum Arzt muss, wird sicher weniger Schwierigkeiten bekommen als derjenige, der zugibt, dass er mit einem Kater zur Apotheke muss. Arbeitgeber haben schließlich eher Verständnis dafür, dass man wegen einer Angina und Gliederschmerzen im Bett bleibt statt wegen einer Angelina und Gliedschmerzen…

Ohne eine Notlüge hier und da hätte sich der Homo sapiens nie zu einem Rudeltier entwickeln können und würde sein Leben heute wohl als Einzelgänger fristen. Zwar wird unter Freunden Ehrlichkeit geschätzt, jedoch nur so lange, wie man der gleichen Ansicht ist wie sie. Keine Bekannte möchte beim Schwimmbadbesuch hören, dass sie kaum noch in den Badeanzug passt. Wird man dennoch gefragt, ob das Outfit gut sitzt, kann man sich taub stellen und vorgeben, Wasser im Ohr zu haben. Oder man bedient sich einer lieb gemeinten Halbwahrheit und antwortet, dass der Anzug wie angegossen sitzt. Das lässt ausreichend Raum für Spekulation wo ausreichend Raum für Speck fehlt…

Bei alten Bekannten ist eine nette Lüge eben manchmal angebrachter als die barsche Wahrheit. Auch wenn man Freunden angeblich alles sagen kann, möchte niemand, der stolz die von Oma geerbte Eichenholzschrankwand präsentiert, gesagt bekommen, dass diese schon im letzten Jahrtausend aus der Mode war und viel besser als im Esszimmer auf dem Sperrmüll aussehen würde. Stattdessen bedient man sich Wörtern wie „retro“ oder „oldschool“, die alles Hässliche und Altmodische umschreiben, was nicht als hässlich und altmodisch bezeichnet werden darf. Die Frage „Sieht der Schrank nicht gut aus?“ sollte man als guter Freund daher einfach bejahen: „Ja, sieht er nicht!“…

Ausreden und Notlügen haben den Sinn, sich durch Ehrlichkeit nicht selbst ins Abseits zu stellen. Wer gibt gegenüber dem nervigen Nachbarn, den man tags zuvor erfolglos hatte an der Tür klingeln lassen, gerne zu, dass man zwar zuhause war, nur eben keine Lust hatte, ihm zu öffnen? Damit man auch im nächsten Urlaub noch jemanden hat, der die Blumen gießt, gibt man beim nächsten Aufeinandertreffen im Treppenhaus daher vor, beim Klingeln gerade unter der Dusche oder im Gebet gewesen zu sein. So pikiert man niemanden mit Ehrlichkeit und stellt sicher, dass der Ficus in der Diele nach dem nächsten Sommerurlaub nicht aussieht wie der Lorbeer im Gewürzregal…

Völlig fehl am Platz ist Ehrlichkeit beim Besuch der Schwiegereltern, wenn es wieder Braten gibt, der mit viel Mühe, aber wenig Talent zubereitet wurde und nach stundenlangem Kokeln im Ofen eher an Tante Hilde erinnert, nachdem sie aus dem Krematorium kam. Will man ein mütterliches Tränenmeer vermeiden, sollte man auf die Frage, ob etwas fehle, nicht etwa mit den Worten „Gute Zähne“ antworten, sondern versuchen, die Schuhsohle auf dem Teller, die einmal eine Gänsebrust war, in Soße aufzuweichen bis sie wenigstens häppchenweise von einem menschlichen Gebiss zerkleinert werden kann. Wenn dann gefragt wird, wie es schmeckt, reicht ein kurzes „Wie immer!“…

Auch in Beziehungen gilt es, mit überschwänglicher Ehrlichkeit vorsichtig zu sein. Wer glaubt, seiner langjährigen Partnerin eine Freude zu machen, wenn er nach einer Flasche Wein gesteht, sie zu lieben wie am ersten Tag, auch wenn sie mittlerweile aussieht wie ihre Mutter, dem dürfte seine Ehrlichkeit ein paar Nächte auf dem Sofa einbringen. Selbst wenn sich die einst schlanken Beine der Frau oder Freundin nicht mehr von Dönerspießen unterscheiden, gilt es, die bessere Hälfte beim Shoppen stets dabei zu unterstützen, Jeans in Größe 36 zu finden. Selbst wenn klar ist, dass diese nicht einmal passen würden, wenn die alte Pummelfee vom Dach aus in die Hose springt…

Kleine Lügen erhalten Freundschaft, Beziehung und Arbeitsplatz, sollten aber stets mit Bedacht gewählt werden. Standardausreden wie Kopf- und Regelschmerzen oder ein unklarer Coronatest sind für Absagen genauso unglaubwürdig wie die Ausrede, man könne nicht kommen, da man von Außerirdischen entführt wurde oder ein Schaf den Autoschlüssel gefressen hat. Viele Menschen sind im Irrglauben, schlechte Ausreden würden dadurch glaubhafter, wenn man mehrere von ihnen gleichzeitig parat hat. Man entschuldigt sich also, weil man sich nicht wohl fühlt und am nächsten Tag früh raus muss und bereits auf zwei anderen Geburtstagen eingeladen ist…

Gerne genommen werden übrigens Ausreden, die kein Nachverhandeln zulassen. Todesfälle sind die besten vorgeschobenen Gründe, da sie bei demjenigen, dem man absagt, ein bedrückendes Gefühl auslösen und ausschließen, dass nachgebohrt wird, ob man später nicht doch noch komme. Bei vermeintlichen Toden sollte man jedoch unbedingt Buch führen, damit man nicht den Überblick verliert. Man braucht sonst gute Argumente, wenn die Oma, die letztes Jahr angeblich zu Grabe getragen wurde, als man keine Lust auf die Firmenfeier hatte, im Jahr darauf beim gleichen Anlass erneut als Absagegrund bemüht wird und dann ihren 90. Geburtstag feiert…

Was mir jedoch nicht ganz klar ist: Wer lügt, landet in der Hölle. Und wer die Wahrheit sagt, kommt in Teufels Küche. Wo ist dann also der Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit? Alles gelogen… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Wenn der Entsafter nicht hält, was die Werbung verspricht, könnte es eine Lügenpresse sein.