Im Laufe der letzten 200.000 Jahre, in denen wir Menschen unser Unwesen auf der Erde treiben und der irrigen Ansicht sind, dort die beherrschende Lebensform zu sein, haben wir wohl die meiste Zeit damit verbracht, uns selbst oder anderen Lebewesen den Garaus oder zumindest das Leben schwer zu machen. Kämpfe, Fehden und Kriege lasteten unser menschliches Gehirn über Jahrtausende hinweg weitgehend aus und ließen dort kaum freien Raum für Dinge, die nichts mit irgendwelchem Gemetzel zu tun hatten. Erst im 20. Jahrhundert schaffte es der Homo sapiens, Erfindungen hervor zu bringen, die keine Waffen sind, dennoch aber von vielen gerne und täglich genutzt werden…
Seitdem sind vor allem technische Errungenschaften wie Digitaluhren, sprechende Thermometer und batteriebetriebene Milchaufschäumer aus unserem vermeintlich zivilisierten Leben nicht mehr weg zu denken. Seit Erfindung von Musik-Streaming-Diensten nimmt kaum noch jemand ein Grammophon mit, um beim Joggen Musik zu hören. Auch das Kofferpacken ist einfacher, seit es Reisewecker gibt und nicht mehr der Hahn mit ins Gepäck muss. Sogar das über Generationen hinweg traditionelle Baden am Samstag ist mit Erfindung des Deodorants nahezu in Vergessenheit geraten. Und nur noch Survival-Influencer auf YouTube nutzen heute noch statt eines Feuerzeugs Zunder und Feuerstein …
Wer nun jedoch der Annahme ist, unser Gehirn besäße durch den einfacher gewordenen Alltag endlich freie Kapazitäten, um den Warp-Antrieb oder zumindest einigermaßen bissfeste Dosenravioli zu erfinden, dem dürfte entgangen sein, dass uns die allumgebenden technischen Helferlein immer unselbstständiger werden lassen. Sie führen dazu, dass wir das Denken mehr und mehr der Technik überlassen und bereits in Panik geraten, wenn der Saugroboter nicht aufgeladen ist, da wir verlernt haben, einen Besen zu benutzen, ohne ein Auge zu verlieren. Bei vielen ist das Gehirn schon ein Organ wie der Blinddarm, auf das ohne größere Einschränkungen verzichtet werden kann…
Früher musste man sich merken, wo in eine Kaffeemaschine die Bohnen und wo das Wasser hinein gehörten. Heute sprechen Kaffeevollautomaten mit ihrem Bediener. Und das sogar mehr und liebevoller, als es dessen langjähriger Partner noch tut. Längst sagt einem nicht mehr der Verstand oder das blutende Zahnfleisch, wann die Beißerchen ausreichend geputzt sind, sondern die elektrische Zahnbürste. Viele von uns sind heutzutage schon damit überfordert, sich Essen aufzuwärmen, da sie auf der Tupperdose von Oma nirgends ablesen können, wie lange man die Reste vom Vortag in die Mikrowelle lassen darf, bevor es statt Baguette Brikett gibt…
Schuld an den immer längeren Standby-Zeiten unseres Gehirns sind nicht zuletzt Smartphones mit ihren vermeintlich lebenserleichternden Apps. Mit dem Einschalten einer App schalten viele ihren Verstand aus und vertrauen blind auf das, was ihr digitales Ersatzhirn ihnen vorgibt. Früher galt es darauf zu vertrauen, was einem der gesunde Menschenverstand oder zumindest die eigenen Eltern sagen. Das hieß warm genug anziehen, nicht zu viel trinken und ein Taschentuch dabei haben. Heutzutage übernimmt eine App die Auswahl der zum Online-Wetter passenden Kleidung, während eine andere App sagt, wie viel man bis zur Promillegrenze trinken darf. Und was das Taschentuch angeht, findet sich auf jedem Smartphone mittlerweile mehr Rotz als in jedem Tempo…
Früher als der Touchscreen noch eine Wählscheibe war, der bevorzugte Messangerdienst Postkarte hieß und es Chips nicht mit Gigahertz, sondern nur mit Paprika gab, blieb einem nichts anderes übrig als das eigene Hirn zu nutzen. Man musste ohne Google Maps und Ortungsdienst sein Auto auf dem Supermarktparkplatz wiederfinden. Staus waren noch eine Überraschung und wurden nicht per App-Alarm angekündigt. Die großen Entdecker reisten nur mit Sextant und Seekarte um die Erde. Heute trauen sich viele nicht mehr ohne Navi zum Bäcker. Der Landwirtschafts-Simulator hieß früher übrigens Opas Rasenmäher und war mindestens so realistisch wie heute auf der PlayStation5…
Apps sind Fluch und Segen zugleich. Dank KI dürfte das mit unserer wachsenden Unselbständigkeit und Smartphone-Hörigkeit in Zukunft eher schlechter als besser werden. Schon heute wissen Alexa, Siri & Co. schon weit mehr als nur unseren Musikgeschmack und was wir am liebsten beim Lieferservice bestellen. Bald werden sie auch wissen, wann man zum letzten Mal die Unterhose gewechselt oder den Müll getrennt hat, und sich dann nicht scheuen, dies jedem Adressbuchkontakt per Kurznachricht mitzuteilen, wenn man nicht umgehend ein völlig überteuertes 5-Jahres-Premium-Abo für irgendeine nutzlose Waschmitteldosier- oder Mülltrenn-App bucht.
Dank verschiedenster Apps sind aus Telefonen mit Zusatzfunktionen mittlerweile Zusatzfunktionen mit Telefon geworden. Die Smartphones von heute sind wahre Alleskönner, die man laut App-Store-Angebot längst auch als Schallplattenspieler, Fliegenklatsche, Schwangerschaftstest oder Bumerang nutzen kann und auch soll. Manche Apps sind echt der Hammer. Hat man sie installiert, kann man mit dem Handy sogar Nägel in Wände schlagen. Andere Apps konfigurieren den Vibrationsalarm so, dass man sein Telefon als Sexspielzeug nutzen kann. Und das sogar bei einem Funkloch in der Netzstrumpfhose. Apps zum rektalen Fiebermessen funktionieren dagegen meist nur beschissen…
Ein echter Download-Hit sind derzeit u.a. Einkaufslisten-Apps. Kaum vorstellbar, dass man früher Stift und Zettel mit sich herumschleppen musste. Dazu noch eine Strichcode-App, die zu jedem Produkt im Supermarktregal Informationen aufs Handy liefert, an die man sonst nur käme, wenn man auf der Packung nachlesen würde. Waren das noch beschwerliche Zeiten, als jeder aufpassen musste, wie lange man Brot im Toaster lässt. Dank Toaster-Apps können heutzutage Bräunungsgrad und Knusprigkeit frei gewählt werden. Abhängig von Luftfeuchte und Eckigkeit des Brots wird so die ideale Toastzeit errechnet. Wird der Toast dennoch zu dunkel, hilft zur Not die Rauchmelder-App für 4,99 €…
Taschenlampe, Kompass, Erste Hilfe… es gibt durchaus sinnvolle Apps, die selbst MacGyver nutzen würde. Ob jedoch – und damit möchte ich keinen verAPPeln – eine Toiletten-App notwendig ist, die mit fancy Geräuschen Darmwinde übertüncht, sei einmal dahingestellt. Das ersatzweise Ertönen eines trompetenden Elefanten aus einem WC dürfte für mehr Aufsehen sorgen als ein einfacher Pups. Ich selbst wäre eher verwundert, wenn ich aus der Toilettenkabine nebenan ein vierbeiniges Tier mit Rüssel anstelle eines zweibeinigen Menschen mit Durchfall hören würde. Ähnlich sinnvoll ist da auch eine Lokus-Tagebuch-App, die den Erfolg von Toilettengängen mit Fotos ar(s)chiviert…
Die TEEmperatur-App zeigt derweil beim Eintauchen des Handys in Heißgetränke deren Temperatur. Leider aber nur einmal. An der Beta-Version wird noch gearbeitet. Die App, mit der man Apfelsaft machen kann, ist bislang nur für Apple-Geräte verfügbar. Dagegen ist die App, die aus dem Smartphone einen Fensterputzschwamm macht, für Windows optimiert. Ein Downloadhit ist übrigens die App, die mit einer Luftpolsterfolie als Hintergrundbild optimalen virtuellen Displayschutz bietet. Sollte das Display dennoch zu Bruch gehen, kann die Glückskeks-App über den Ärger hinweg täuschen. Diese gibt es kostenlos in jedem App-Store bei Bestellung von Nr. 13 süß-sauer mit Reis…
Ich nutze mein Smartphone übrigens – ziemlich altbacken und mittlerweile sogar fast ungewöhnlich – zwischendurch auch gerne zum Telefonieren. Das hat Vorteile gegenüber dem Texten. Beim Reden mache ich weniger Schreibfehler. Ap(p)okalypse … gruenetomaten@live-magazin.de.
Patrik Wolf
P.S. Die Corona-Warn-App war damals völlig unbrauchbar. Sie warnte gar nicht vor mexikanischem Import-Bier, das am Folgetag Kopfschmerzen hinterlässt.
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