Braucht die noch jemand oder kann das alles weg?
Ob Boomer oder Generation X, Y, Z und Alpha: Musik war schon immer ein Ausdruck des Lebensgefühls – und daran hat sich kaum etwas geändert. Doch eines ist anders: Die einstigen Protagonisten, Bands und Musikgruppen, verlieren zunehmend an Bedeutung, während Solokünstler die Bühnen erobern. Hat das Konzept des gemeinsamen Musikmachens ausgedient? Wir haben genau hingehört und bei denjenigen nachgefragt, die es am besten wissen.
Das aktuelle Musikgeschehen wird, abseits kleiner Nischen, klar von Einzelkünstlern dominiert. Der Erfolg von Produzenten, DJs und Musikprojekten ist bemerkenswert, während klassische Bands kaum noch eine Rolle spielen. Eine Studie des renommierten US-Musikmagazins Billboard zeigt: Nur etwa acht Prozent der Titel in den Top 100 US-Charts stammen von Bands. In den Neunzigern war es noch weit über die Hälfte, und dieses Jahr schaffte es in den USA kein einziger Song einer Band in die Top 10. Tatsächlich ist es über zwei Jahre her, dass eine Gruppe den ersten Platz der US-Single-Charts erreichte – zuletzt die Indie-Rocker Glass Animals mit „Heat Wave“.
Ähnliches zeigt sich auch in Deutschland. In den aktuellen Airplay-Charts findet sich nur eine einzige „richtige“ Band, Coldplay, und sie waren 2023 auch die einzige Gruppe in den deutschen Top 100 Single-Jahrescharts. Vor zehn Jahren waren es noch 23 Bands, in den Album-Jahrescharts sogar 43. Dass Linkin Park nun erneut die Spitze der deutschen Single-Charts erobert hat, wirkt fast wie ein Wunder. Zuletzt war dies vor einem Jahr den Beatles mit „Now and Then“ gelungen. Mit Coldplay und Journey sind lediglich zwei weitere Bands in den deutschen Top 100 vertreten, und in der aktuellen Album-Top-Ten überrascht neben Coldplay auch The Offspring mit einem neuen Longplayer. Auch jenseits der klassischen Kanäle sieht es ähnlich aus: Nur zehn „echte“ Bands schafften es in die Liste der weltweit meistgespielten Titel auf Spotify – darunter Legenden wie Queen, The Police und Nirvana. Die Liste solcher Statistiken ließe sich endlos fortführen.
Micha M. Tejmuri, Sänger und Frontmann der Rockband „Fashioned From Bone“, die seit Jahren deutschlandweit live überzeugt (u. a. Rocco del Schlacko und Rock im Wald), glaubt weiter an das Mehr-Personen-Konzept:
„Natürlich liegt der Fokus heutzutage nicht mehr auf so vielen Bands, wie es früher mal der Fall war. Aber es gibt dennoch sehr viele Bands weltweit und auch in Deutschland, die eine große Fanbase haben und auch viele Touren und Konzerte spielen. Sie sind halt nicht in den Charts. Doch ich glaube, dass man irgendwann nicht mehr an ihnen vorbei kommt. Es ist alles eine Frage der Zeit.“
Die Ursachen dieses Trends sind vielfältig und teils noch ungeklärt, da diese Entwicklung meist unbemerkt verlief und erst jüngst ins Bewusstsein rückte. Eine Hauptursache dürfte der veränderte Musikgeschmack der breiten Masse sein – weg von Rock in seinen vielen Facetten hin zu Pop und Dancemusic. Schon in den Neunzigern wurden klassische Bands im Mainstream von Boy- und Girlbands verdrängt, und seit den 2000ern sorgt der Erfolg des HipHop für den Aufstieg von Solokünstlern. Auch DJs und Produzenten genießen mittlerweile enorme Popularität.
Mit Erfolg und Hype ist auch Stefan Zintel vertraut. Der Dozent, Klangkünstler, Musiker und Musikproduzent leitet seit 1996 das Studio für akustische Kommunikation an der HBK Saar und lehrte zehn Jahre Elektronische Musik an der Hochschule für Musik in Saarbrücken. Seit Anfang der Neunziger feiert er internationale Erfolge und seine Tracks finden sich auf mehr als 300 Samplern, zusammen mit Artists wie Paul Van Dyk, Westbam, Dr. Motte und Da Hool aber auch Lisa Stansfield, Rammstein, DJ Bobo, Bee Gees, Scooter und Marky Mark u.v.m.. Umso interessanter seine Sicht des Phänomens:
„Gecastete Bands sind keineswegs ein neues Phänomen. Spontan denke ich da an Frankie Goes to Hollywood. Schon Mitte der 80er Jahre galt das Interesse hauptsächlich dem Sänger Holly Johnson – die restlichen Bandmitglieder spielten im Studio keinen einzigen Ton ein. Das untermauert meine These, dass Plattenfirmen und Produzenten maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Der Zeitgeist und technologische Fortschritte tun ihr Übriges. Betrachtet man den Gesamtumsatz der Musikindustrie, stellt man fest, dass er in den letzten zehn Jahren weiter gestiegen ist – nicht zuletzt durch das vielkritisierte Streaming.“
Tatsächlich ist der technologische Fortschritt im Musikbereich entscheidend. Künstler können heute den Sound eines kompletten Orchesters allein erzeugen. Früher war man auf Bandkollegen angewiesen, um verschiedene Instrumente und Harmonien zu integrieren – heute übernimmt der Computer das.
Markus Brixius, Herausgeber des Kulturmagazins PopScene und Mitglied der Mod-Band The Apemen, verfolgt das Musikgeschehen aufmerksam und hat eine klare Meinung zur aktuellen Entwicklung:
„KI überschwemmt gerade den Musikmarkt, und das hat aus einigen Blickwinkeln sicher nicht nur positive Seiten. Andererseits, wenn du nicht weißt, dass es von einer KI kommt, und die Musik dich trotzdem berührt – wem schadet es? Klar, KI wurde irgendwann mal mit echter Musik gefüttert, aber das gilt auch für Musiker, die Jimi Hendrix gehört haben. Für mich ist KI ein netter Ping-Pong-Partner und Beschleuniger bei manchen Sachen. Aber wohin das noch führt, wird sich zeigen. Einen Kultstatus wie „The Cure“ wird KI vermutlich nicht erreichen. Aber wer weiß das schon?“
Nicht erst seit dem Siegeszug der KI in den letzten Jahren ermöglichen digitale Musikprogramme es, allein komplette Tracks zu schaffen. Wegweisend war hier Garageband, ein Programm, das Apple seit 2004 auf jedem Mac mitausliefert oder Websites wie BeatStars, die es Sängern ermöglichen, fertige Instrumentals zu erstehen, Beats zu erstellen und Gesang mit ihrem Handy aufnehmen. Der Rechner übernimmt schließlich Beats, Samples und allerlei Instrumente und macht das Spielen mit den Komplizen im Proberaum überflüssig.
Auch Rocker Micha M. Teimuri hat an sich keine Berührungsängste mit moderner Technik zieht aber klare Grenzen:
„Ich will die Künstler hören und fühlen und nicht das, was ein Computer ausgespuckt hat. Computer spielen heutzutage eine große Rolle beim Recorden und auch komponieren von Songs, aber KI zum Komponieren von Songs zu nutzen ist schlichtweg billig und langweilig. Doch am Computer Songs zu schreiben, also diese direkt aufzunehmen und dann zu bearbeiten ist ein Tool, was sehr nützlich sein kann. Und kreativ kann man dabei natürlich auch sein. Es kommt immer darauf an, was man machen möchte. Das ist eine Frage des Sounds, den man als Band haben möchte, da man heutzutage die Wahl hat, wie man klingen möchte.“
Stefan Zintel ergänzt:
„In den letzten Jahren ist es immer günstiger geworden, im eigenen „Homestudio“ professionell klingende Musik zu produzieren. Dies ermöglicht es vielen Kreativen, ihr volles Potenzial auszuschöpfen und ohne eine Band eigenständig erfolgreich zu sein. Selbst in der Rockmusik ist längst nicht mehr alles „handgemacht“. Pop, Dance, Rap und auch Schlager werden fast ausschließlich am Computer produziert – eine Band ist dafür nicht mehr notwendig. Selbst beim Gesang kann mittlerweile auf KI zurückgegriffen werden. Das ist ein Trend, den man nicht gutheißen muss, der aber zweifellos existiert und sich weiterentwickeln wird.“
Für Solo-Künstler entfällt beim Musikmachen ohne Bandkollegen der Balanceakt um verletzte Egos und persönliche Empfindlichkeiten. Dies kann die Produktion zwar effizienter gestalten, lässt jedoch auch einen wertvollen Teil des kreativen Prozesses verloren gehen: den ideenreichen Austausch und das Zusammenspiel unterschiedlicher Perspektiven. Damit schwanden auch das Revolutionäre und Rebellische, und viele Musikproduktionen wurden zunehmend glatter und kommerzieller. Parallel dazu hat die Industrie die Branche zunehmend durchkommerzialisiert, sodass Musik oft zur Ware und der Musiker im schlimmsten Fall zur fremdbestimmten Marke degradiert wurde.
Ein Aspekt, der in dieser Entwicklung nicht zu unterschätzen ist, sind die sozialen Medien. Als wesentliche Elemente der modernen Vermarktung und Promotion heben sie meist individuelle statt kollektive Bemühungen hervor. Technologie hat den Bedarf an musikalischen Mitstreitern in vielen Bereichen nahezu überflüssig gemacht, und so richten Plattformen wie X (ehemals Twitter), Instagram und TikTok den Fokus zunehmend auf Einzelpersonen. Hier werden Geschichten direkt und zugänglich erzählt, und selbst erfolgreiche Bands stellen sich auf Social Media häufig nicht mehr nur als Gruppe dar. Nicht selten haben die Profile von Frontfrauen oder -männern sogar mehr Follower als die der gesamten Band, was ein Gefühl von Distanzierung innerhalb der Formation schaffen kann. Für die Künstler bieten solche Einzelaccounts außerdem ein Sicherheitsnetz – falls die Band irgendwann auseinanderfällt.
Markus Brixius verfolgt die Entwicklungen auf sozialen Medien aufmerksam und sieht in dieser Individualisierung sowohl Herausforderungen als auch Chancen.
„Ich bin kein Soziologe, aber es könnte schon sein, dass jüngere Generationen das Erlebnis von Konzerten weniger schätzen und lieber Netflix schauen, Konservenmusik hören oder Counter-Strike spielen. Wenn das so ist, fände ich es schade. Vielleicht gibt es einen allgemeinen Trend weg von Großveranstaltungen hin zu kleineren, persönlicheren Events, die dann online stattfinden – auf Twitch, in WhatsApp-Gruppen, bei virtuellen Spielrunden, auf Discord oder bei Watchpartys. Vielleicht werden dort die Stars von morgen geboren, die ebenfalls Massen begeistern können.“
Natürlich geht es dabei auch ums Geld. Einzelkünstler, die einen Hit landen, müssen die Einnahmen nur mit ihrem Management teilen, das ohnehin immer involviert ist. Für Managements und Labels stellen Bands dagegen zunehmend einen Kostenfaktor dar, den man gern minimiert oder ganz umgeht. Die Koordination, das Styling und die Vermarktung einer Gruppe sind schlicht teurer und aufwendiger als die eines Einzelnen.
Auch das finanzielle Verständnis in der Branche hat sich gewandelt: Man weiß heute, dass Gruppen nicht nur teuer in der Entwicklung sind, sondern ihre Gewinne auch auf mehrere Mitglieder verteilen müssen. Selbst bei großem Erfolg verdienen sie oft deutlich weniger als ein Solo-Act. Heutzutage werden solche Karrieren zudem weniger durch klassische Medien gefördert, sondern vor allem von Social-Media-Trends und Streaming-Algorithmen bestimmt. Labels steigen, wenn überhaupt, erst später ein – nachdem Künstler ihre Reichweite selbst aufgebaut haben, was für Solokünstler deutlich einfacher ist.
All diese Entwicklungen lassen Micha M. Tejmuri jedoch völlig unbeeindruckt:
„Bands sterben nicht aus. Wir sind da und wir werden auch nicht von der Bildfläche verschwinden. Solange es Strom gibt, werden wir laut sein. Wenn Radiostationen nur noch Musik von Labels spielen, finden wir welche, die auch Independent Bands die Möglichkeit geben, ihre Musik zu präsentieren. Wenn Bands die Ausnahme sind, dann haben sie wiederum auch größere Chancen aufzufallen. Daher sehe ich in der Entwicklung eher eine Chance als eine Hürde. Bands sind nicht mehr in den Top 100? Scheiss drauf. Wir brauchen keine Charts, um live den Leuten zu zeigen, wieso wir Musik machen. Wir sind nicht da, um in den Charts zu sein. Wir sind da um leidenschaftlich Musik zu machen. Charts sind nur eine Momentaufnahme der Vergangenheit. Ich lebe im Hier und Jetzt. Da habe ich keine Zeit mich darüber zu ärgern, wieso nur eine Band in den Charts ist, vor allem wenn es Coldplay ist.“
Dem ist wenig hinzuzufügen, außer vielleicht dem Hinweis, dass die Release Party für ihr selbstbetiteltes Debüt-Album am 15.11. im Die Wand in Saarbrücken steigt. Auf jeden Fall hingehen, solange es noch Bands gibt! Markus Brixius sieht es ähnlich pragmatisch:
„Musik hören, auch abseits des Mainstreams – und Konzerte besuchen. Vor allem aber mit dem Geldbeutel abstimmen, wer nach oben soll. Es gibt immer noch viele richtig gute „echte“ Bands, aber ob die es in die Charts schaffen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Heute sind andere Fähigkeiten gefragt als nur gute Musik zu machen, um in den Vordergrund zu rücken. Ich denke, das wird so bleiben. Am Ende ist Musik ein Geschäft, und da ist jedes Mittel recht, um Geld zu verdienen. Aber man weiß ja nie. Für jeden Trend gibt es einen Gegentrend. Vielleicht kommt ja jemand mit einer cleveren Idee um die Ecke.“