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Mel´s Mikrokosmos

Das Rotkehlchen

Hallo Mikrokosmonauten: Das Gute liegt so nah

Ich frage mich seit jeher, warum manche Menschen auf die Frage, wie es ihnen geht, mit: „Du weißt doch, schlechten Menschen geht es immer gut!“ antworten? Denn in den allermeisten Fällen kommt diese Antwort von denjenigen, die eigentlich herzensgut sind. Warum also sehen sie sich als schlecht an? Warum ziehen sie überhaupt in Erwägung, schlecht zu sein? Und selbst wenn sie es ironisch meinen: Wie kommen sie darauf, gerade in dieser Antwort ironisch zu sein? Ich könnte mir vorstellen, dass der ein oder andere von ihnen tatsächlich böse und schlecht ist, aber dann frage ich mich auch in diesem Falle:

Was war zuerst? Das Böse oder der Mensch?

Diejenigen, die mich kennen wissen, dass ich weder ein Menschenfreund bin, noch sonderlich charmant mit meinen zweibeinigen Artgenossen umgehe. In der Vergangenheit gab ich den meisten nicht mal den Hauch einer Chance. Warum das so ist, kann ich gar nicht sagen. Eventuell, weil ich Menschen bis heute nicht so ganz begreife. Ihre Handlungen, ihre Taten, ihre Gedanken. Social skills ist etwas, was ich bis heute mehr oder weniger erfolglos studiere. Den Master werde ich darin wohl nie machen. Darüber hinaus empfinde ich es auch viel einfacher, der Spezies Mensch den Stempel „Böse“ aufzudrücken und im Zweifelsfalle einer Handvoll von ihnen das Prädikat „nett“ zu verleihen. Mehr geht nicht. Allerdings kann ich derzeit etwas an mir beobachten, und ich beobachte es auch da draußen, was mich zu einer Revision zwingt. Okay, vielleicht war es auch schon immer da, aber erst jetzt bekomme ich ein Gespür dafür. Das Gespür für Menschlichkeit. Zwar ist Weihnachten und dieses ganze damit verbundene kitschige Nächstenliebe-Getue vorbei, aber ich verspüre zurzeit ein subtiles Zusammenrücken und ein wenig mehr Sanftmütigkeit und Einsicht unter meinesgleichen. Fast so sieht es aus, als hätte sich ein Weichzeichner über alles gelegt. Und ich mittendrin und damit verbunden ganz viele neuartige Gefühle, die ich nicht eruieren kann. 

Aber ganz von vorne. Angefangen hat nämlich alles mit einem Rotkehlchen. Unter meinen Kollegen bin ich dafür bekannt, dass ich Tiere liebe und alles für sie tun würde. Man kommt regelmäßig auf mich zu, wenn mal wieder ein Vogel gegen die Scheibe geflogen ist. Manchmal sind sie bereits tot. Aber bevor sie zwischen Kippenstummel und Brotresten in einer Mülltonne ihre letzte Ruhestätte finden, informiert man mich, damit ich sie würdevoll beerdige. Es kommt allerdings auch immer mal wieder vor, dass das Tier noch lebt und so begab es sich auch neulich, als ein Kollege mich aufsuchte und mich bat, mit nach draußen zu kommen. Das Bild, was sich mir bot, passte nicht in mein Mel-typisches menschenverachtendes Muster und mein Gehirn hatte massive Schwierigkeiten, diese Art von Situation richtig zu deuten. Ich sah einen LKW mit offener Türe. Vor dem Fahrzeug befand sich ein großer, bulliger Kerl in Warnweste. Er trug Mütze und Vollbart. Es konnte nur der Fahrer sein. In seinen Händen hielt er etwas, als wolle er es beschützen. Aber es passte für mich rein gar nichts zusammen. Bulliger LKW-Fahrer hält etwas schützend in der Hand? Er kam auf mich zu, er kam näher und dann sah ich es. Er hielt einen kleinen Vogel in seinen Händen und da ich gut zu Vögeln bin, übergab er ihn mir. Dieser große Kerl, von dem man annahm, dass er allenfalls eine Dose Bier so fürsorglich behandeln würde. Ich nahm den Vogel an mich, konnte noch nicht mal mehr etwas zu ihm sagen, aber nahm von meinem Kollegen noch wahr, dass der Vogel wohl kurz zuvor gegen eine Scheibe geflogen war und der LKW eine Vollbremsung hinlegen musste, um das Tier nicht zu überfahren, das ohnmächtig auf der Straße liegen geblieben war. 

Zurück in meinem Büro legte ich den Vogel, ein Rotkehlchen, behutsam in meine Wollmütze und wartete ab. Währenddessen rasten meine Gedanken und Gefühle. Wie konnte es sein, dass ein arbeitender Mann des Volkes, dem ich allenfalls bei den Fußballergebnissen Emotionen zugetraut hätte, ein Herz für Tiere hatte? Und ich begann mich auf einmal richtiggehend zu schämen. Für meine vorurteilsbehaftete Denkweise. Für meine Annahme, alle Menschen seien böse und gefühlskalt. Und für meine Arroganz, in Schubladen zu denken. Ich wollte Rotkehlchen fragen, aber es schaute mich nur ratlos mit seinen schwarzen Äuglein an und kackte in die Mütze. Immerhin. Es lebte. 

Gut und Böse sind Grundtendenzen unserer Existenz. Wenngleich es rein psychologisch gesehen keine bösen Menschen gibt, sondern man dort vielmehr von Persönlichkeitsstörungen oder Narzissmus spricht. Psychopathen, Tierquäler, Killer – sie alle mögen das Böse verkörpern, die Diagnose lautet jedoch immer, dass sie ein hohes Maß an Sadismus besitzen, um ihren Selbstwert zu erhöhen. Aber wie dem auch sei haben die Menschen seit jeher die Wahl. Und in den meisten Fällen sind wir bestrebt, Gutes zu tun und gut zu sein. Und letztendlich musste ich es mir eingestehen: Das Gute im Menschen existiert.

Hilfsbereitschaft. Nächstenliebe. Rücksicht. Ich frage mich, ob es immer Krisen bedarf, dass Menschen sich wieder annähern. Oder dass sie zumindest feinfühliger werden. Dass wir erstmal so richtig durchgeschüttelt werden müssen, um zu begreifen, was wirklich zählt im Leben. Zwar schüttelte es mich neulich nicht, aber es gab einen ordentlichen Bumms, als ich schnellen Schrittes um die Ecke bog und auf glatter Straße den Halt verlor. Ich knallte gegen die Hauswand, kippte zur Seite weg und blieb rücklings auf dem Asphalt liegen. So daliegend erinnerte es mich an meinen Griechenland Urlaub und zu viel Ouzo, einer Flucht aus einem Taxi und einem anschließenden Asphalt-Nickerchen, weil der sich so schön kühl anfühlte. Nun war ich aber nicht in Griechenland, sondern in Saarbrücken und ehe ich mich versah, reichte mir ein langhaariger Asiate die Hand, half mir auf und fragte, ob alles in Ordnung sei. Wäre dies eine Romantic-Comedy, hätte ich mich Hals über Kopf in diesen hilfsbereiten Menschenfreund verknallt und wir wären auf ewig glücklich gewesen. In Wahrheit überragte ich ihn jedoch um fast einen Kopf und er guckte mich nicht gerade so an, als sei ich seine Königin Conztantia, und außerdem eilte mir mein Freund nach, der gerade mit Parkschein ziehen fertig war und rügte mich für meinen Sturz, als wäre ich ein kleines Kind. 

Am Ende ist es doch so: Es ist nie ein Mensch so schlecht, dass er schon wieder in irgendeiner Art gut sein könnte. Ich glaube, ich habe schon vielen Leuten in meinem Leben Unrecht getan, die eigentlich besser waren, als ich annahm. Ich war zu schnell und zu hart in meinen Urteilen, habe mich zu selten überzeugen lassen, vergab kaum zweite Chancen. Und ich schaute nicht so genau hin. Ich würde den LKW-Fahrer gerne wissen lassen, dass das Rotkehlchen überlebt hat. Dass es nur dank ihm wenig später aus meiner Mütze gehüpft kam, ich es auf meinen Handrücken setzte und das Fenster öffnete. Bevor es davonflog schaute es mich mit seinen Knopfaugen ein letztes Mal an, legte den Kopf schief und zwinkerte, als wolle es Danke sagen. Dann kackte es mich zum Abschied an und weg war es. 

Und einfach so kam die Zuversicht in mein Leben. Das Vertrauen in das Gute in jedem von uns. 

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