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Grüne Tomaten schlafen wütend

Denkblogade

Wer ist beim Kramen nicht auch schon einmal auf ein paar alte Schulbücher gestoßen, die man einst mit der festen Überzeugung behalten hatte, sie irgendwann sicher noch einmal brauchen zu können. Leider war in der Zeit, als bei mir Deutsch- und Erdkundebücher zuerst in Kisten und Schränken und danach aus Augen und Sinn verschwanden, nicht absehbar, dass sich wenig später sowohl die Rechtschreibung als auch die Atlaskarten derart verändern würden, dass ich mein mühsam erlerntes Wissen darüber, welche Wörter und Länder zusammengehören und welche getrennt werden, nicht mehr nutzen können würde. Ganz zu schweigen von den Schulunterlagen, die bis heute schwarz auf weiß behaupten, S und T wären nie getrennt, Berlin und Deutschland dafür aber schon…

Wer hätte Ende des letzten Jahrhunderts, als die Anzeige des Radioweckers noch so ziemlich das einzig Digitale im Alltag war, gedacht, dass bloß eine Generation später zwei Minuten im Internet mehr Informationen liefern würden als zwei Stunden in einer Bibliothek. Auch wenn Bücher gegenüber digitalen Dokumenten Vorteile haben, wenn Tischbeine zu kurz sind, hat die Schnelllebigkeit dazu geführt, dass Neuigkeiten mittlerweile so rasch altern, dass sie es gar nicht mehr aktuell aufs Papier schaffen. Wen interessiert noch das Wetter aus der Zeitung, wenn das Smartphone die Vorhersage minütlich aktualisiert? Die Welt dreht sich heutzutage so schnell, dass die Zeitung vom Morgen bereits am selben Abend nur noch so aktuell ist wie das Geschichtsbuch aus der achten Klasse…

Wer über 30 oder gar 40 ist, stellt fest, dass außer der Anzahl an Kontinenten und Weltkriegen nicht mehr viel von dem stimmt, was man einmal in der Schule gelernt hat. Es interessiert heute niemanden mehr, dass dass daß hieß und man früher Albträume nur im Schwäbischen hatte. „Bitte“ und „Danke“ stehen längst auf der Liste der Worte, die aus dem Duden gestrichen werden können, da sie niemand mehr nutzt. Selbst das Rechnen hat sich verändert. Kaufte Oma Elfriede früher 10 Kilo Äpfel für einen Euro pro Kilo, war 10 Euro die einzig richtige Antwort auf die Frage, was sie zahlen muss. Heutzutage sind 9 Euro ebenso korrekt, da selbst Oma nicht mehr auf dem Markt einkauft, sondern im Internet mit Rabatt bestellt und sie dank Versand das Kernobst nicht mehr selbst nach Hause schleppen muss…

Aus alledem kann man lernen, dass es nichts bringt, Schulsachen ewig aufzuheben, vor allem aber, dass man – wenn einem einmal Kram aus vergangenen Tagen in die Hände fällt – diesem keine allzu große Bedeutung mehr beimessen sollte. Das gilt für Uropas Deutschlandkarte von 1935 ebenso wie für eigene Liebesbriefe aus der Mittelstufe. Vor allem aber gilt es für Notizen, in denen man während langweiliger sechster Stunden seinen pubertären Weltschmerz zu Papier brachte und sich darüber beklagte, dass die süße Sandra mit dem doofen Thorsten zusammen ist. Seiner Zeit fand man es aus subjektiver Sicht eines Heranwachsenden gut, Gefühle aufzuschreiben, heutzutage aus objektiver Sicht eines Erwachsenen allerdings besser, dass diese Gefühle nie jemand zu lesen bekam…

Anders als früher, als man seine Gedanken einzig für sich selbst auf einen Block schrieb, schreibt man diese heute für die ganze Welt lesbar in einen Blog und philosophiert für die gesamte Menschheit im Internet einsehbar darüber, ob Rasenmähen nun Mord an Pflanzen ist oder warum es moralisch nicht mehr vertreten werden kann, einen Schokokuss Mohrenkopf zu nennen. War ein Tagebuch einst etwas Privates, was niemand lesen durfte, ist ein Weblog heutzutage etwas Öffentliches, was jeder lesen soll. Dieser Ansicht sind zumindest Blogger, die der festen Überzeugung sind, diese Welt besser zu machen, wenn sie über die Laune ihres Wellensittichs berichten, den Bräunungsgrad ihres Frühstückstoasts posten oder zur Diskussion anregen, welcher Toilettenreiniger am besten riecht…

Eines der größten Probleme der digitalen Zeit ist wohl die inflationäre Verbreitung von Meinungen, die für den Fortbestand der Menschheit völlig irrelevant sind, aber im Internet auf ewig verbleiben wie ein Rotweinfleck in einem weißen Hemd. Während in analoger Zeit peinliche Texte und Fotos irgendwann in Vergessenheit gerieten und in einer Kiste verschwanden, ist in digitaler Zeit an ein Vergessen und Verschwinden in der Cloud nicht zu denken. War man früher noch selbst Herr der Entscheidung, was im Papierkorb landet und was aus diesem wieder herausgeholt wird, hat man diese Kompetenz heute längst an Google und Co. abgegeben. Und die sind auch nicht besser als die eigene Mutter, die früher auch stets betonte, nichts mitzulesen, am Ende aber doch über alles Bescheid wusste…

Viele geben sich heutzutage nicht mehr damit zufrieden, eine Meinung zu haben. Sie möchten auch, dass jeder diese Meinung kennt. Wer früher halbgare Parolen auf Toilettentüren schrieb, kommt heute nicht mehr ohne Smartphone aus. War Influenza einst eine Krankheit, sind Influencer mittlerweile eine Plage. Beide sind lästig und verbreiten sich schneller als man etwas gegen sie tun kann. An die Stelle seriöser Textbeiträge in Fachzeitschriften sind reißerische Netzkolumnen und Reels getreten, die durch Clickbaiting Werbeeinnahmen generieren sollen oder Schwurbler anlocken. Mittlerweile gibt es für alles Vorstellbare und für noch viel mehr Unvorstellbares Blogs, Vlogs und Podcasts, bei denen um Likes gebettelt und sich multimedial prostituiert wird, um an das Geld der Abonnenten zu kommen…

Die Gefahr der Meinungsbildung durch gefährliches Halbwissen ist dank des Internets heute größer als früher, als Blödsinn nur unter denen verbreitet wurde, die in der Schule voneinander abschrieben. Resultat sind immer mehr „urbane Legenden“, also Unwahrheiten, von denen viele glauben, sie seien wahr. Zum Beispiel, dass Kühe ertrinken, wenn sie weiter als bis zum Euter im Wasser stehen, da sie keinen Schließmuskel besitzen. Oder dass Ostdeutschland kein Nazi-Problem hat. Verwerflich ist nicht, solche Fakes im Netz zu verfolgen, sondern diese dort weiterzuverbreiten. Wer im Internet bei der Suche nach dem nächsten Präsidenten der USA neben Joe Biden und Donald Trump auch Homer Simpson genannt bekommt, sollte zumindest skeptisch sein. Am besten bei allen drei Antworten…

Die Hoffnung, von der vermeintlich allwissenden Internetgemeinde bei einer wichtigen Frage die richtige Antwort zu bekommen, wird oft enttäuscht. Wie Religionen und Bedienungsanleitungen liefert auch das Internet nur wenig wirklich brauchbare Ratschläge. Anders als in der Schule, wo derjenige sich meldete, der eine Antwort wusste, ist es im weltweiten Netz üblich, zu kommentieren, dass „das eine gute Frage“ sei, die man sich „auch schon gestellt“ hat, deren Antwort man aber „leider auch nicht weiß“. Es mangelt dem Internet nicht an Antworten, jedoch leider an den richtigen Fragen, die zu den Antworten passen. Früher war man still, wenn man etwas nicht wusste, um nicht aufzufallen. Heute kommentiert man, wenn man etwas nicht weiß, um aufzufallen…

Letztens suchte ich bei einem Problem mit dem Web-Browser Hilfe in einem Blog. „Bibi_Blogsberg“ ließ mich wissen, dass sie lieber badet statt zu brausen und keine Ahnung über Software, dafür aber Lust auf Softeis hat. „Sun Blogger“ fragte mich, ob ich nicht doch weiblich bin und Lust auf ein Treffen hätte und „Jenny from the Blog“ bot mir günstige Markensonnenbrillen an. Die Antwort von „Blogflöte“ war da noch am hilfreichsten, die mir vorschlug, ich solle doch mal googeln. Am Ende hatte ich keine Antwort, aber eine Erkenntnis: Irgendwie ist das Internet wie meine alten Schulhefte: Voller Rechtschreibfehler und Texte, die einem im Leben nicht weiter helfen. Da muss man einfach blogger bleiben. Denkblogade…gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P.S. Gibt es im Internet eigentlich ein Forum für Schwangerschaftsverhütung mit Namen „Spiralblog“?

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