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Grüne Tomaten schlafen wütend

Gingle Bells

Wer beim Aufräumen in irgendwelchen alten Kisten seiner Eltern oder Großeltern unverhofft auf Fotos stößt, die anno dazumal im letzten Jahrtausend auf vermeintlich legendären Geburtstagen oder Familienfeten geschossen wurden, die man selbst nur noch vom Hörensagen kennt, der ist meist ziemlich verwundert über den damaligen Frisuren- und Kleidergeschmack. Aber auch darüber, wie fit Oma im Vergleich zu heute aussah, als sie noch lebte…

Ebenso seltsam wie die einst als modisch erachteten Tapeten- und Hemdenmuster, mutet heute auch das an, was Oma Ella ihren Gästen damals zu trinken anbot: Ob Persico, Edelkirschlikör, Schinkenhäger oder essigsaurer Riesling, den Uropa noch zu Kriegszeiten günstig en gros bezog, was freiwillig ausgeschenkt und auch freiwillig getrunken wurde, war in Sachen Farbe, Geschmack und Magenfreundlichkeit nicht weit weg von dem, was heute nur noch Toilettenreiniger zu bieten hat…

Lange waren wir Männer im 21. Jahrhundert auf der Suche nach einem Trendgetränk, das zu unserem Lebensstil ebenso gut passt wie Eierlikör damals zu Tante Walburga und Doppelkorn zu Onkel Ede. Es galt etwas zu finden, das im Trend liegt, farblich zu den Holzfällerhemden jedes Hipsters passt und den gestylten Männerbart nicht verklebt. Es sollte ein Getränk sein, das individueller ist als Craft-Bier, umweltfreundlicher als Biowein und exklusiver als Aperol Spritz…

Zudem sollte es natürlicher sein als Himalayawasser und auch mehr Geschmack haben als das, vor allem aber eine bessere Ökobilanz aufweisen. Das neue Trendgetränk musste mehr Alkohol haben als Mate-Tee, aber weniger als Absinth, damit man nicht bereits nach dem ersten Glas vom E-Scooter fällt oder sich auf sein Fair-Trade-Baumwollhemd übergibt. Darüber hinaus sollte es veganer sein als Milch und zu gesundem Obst und Gemüse passen. Das machte die Sache letztlich nicht ganz einfach…

Irgendwann scheint dann jedoch ein Hipster in seinem Jutebeutel statt seines Mundwassers irrtümlich den Nagellackentferner seiner Freundin gegriffen, davon getrunken und danach versucht zu haben, den stechenden Geschmack im Mund durch einen Schluck Bitterlimonade und den Biss in eine Zitrone zu mildern. Was ihm nicht nur gelang, sondern ihn auch auf den Geschmack und zur Erkenntnis brachte, dass selbst das übelste Alkoholgemisch mit etwas Tonic und Zitrone trinkbar wird…

So erlangte das Getränk, das in grauer Vorzeit von Briten nicht wegen seines Wohlschmeckens, sondern zum Schutz vor der Malaria-Krankheit erfunden wurde, von einigen Jahren zu einer wiederaufflammenden Bekanntheit und dem Höhenflug, der bis heute anhält. Es ist das Getränk, ohne das kein seriös wirkend wollender Jungunternehmer und kein jung wirkend wollender seriöser Unternehmer von heute mehr auskommen mag: Gin Tonic…

Gin fristete zuvor außerhalb Englands ein eher unbeachtetes Dasein bei Menschen unter Siebzig. Er war für jede Cocktailbar das, was ein Bösewicht für einen James-Bond-Film ist: Etwas, das niemand mag, das als Zutat für eine gute Mischung jedoch gebraucht wird. Gin war das Böse im Yin und Yang des Alkohols: Während Wodka, Rum und Co. stets lecker waren und blieben, wurde alleinig Gin die Schuld gegeben, wenn man nach dem zehnten Cocktail die Nacht über der Kloschüssel verbrachte…

Wie die pummelige Rothaarige aus der Parallelklasse während der Pubertät, war auch Gin lange Zeit das, an das man erst ran ging, wenn alles andere schon weg war. Da einem bewusst war, dass es einem am nächsten Morgen sicher bitter aufstoßen würde. Gin mochte niemand und rangierte seiner Zeit in Sachen unbeliebter Getränke noch vor Franzbranntwein und Desinfektionsmittel. Das ist inzwischen ganz anders. Gin ist Trendspirituose Nr. 1…

Beim Blick in die Supermarktregale gewinnt man den Eindruck, dass derzeit alles, was zu schlecht ist, um als Brennspiritus verwendet zu werden und zu gut, um davon zu erblinden, in einer Designflaschen mit buntem Etikett hochpreisig als Gin verkauft wird. Die Zahl verschiedener Ginsorten hat die Zahl verschiedener Nudelsorten längst übertroffen. Auch wenn sich mancher Gin vom anderen geschmacklich kaum mehr unterscheidet als Rigatoni von Penne…

Wer als Mann heutzutage angesagt sein will, braucht nicht nur eine schwarze Fensterglasbrille, einen Barbershop seines Vertrauens und ein Lastenrad mit E-Antrieb, sondern zuhause auch mindestens zwei Dutzend verschiedene Gins. War in jungen Jahren noch im Trend, wer Biere aus aller Welt oder Telefonnummern von Discobekanntschaften sammelte, ist heute eine große Auswahl an Gins für einen Deutschen ebenso wichtig wie eine große Auswahl an Schusswaffen für einen Amerikaner…

Als Mann von heute möchte man weder jeden Morgen neben derselben Frau aufwachen, noch jeden Abend neben dem gleichen Gin einschlafen. Dabei ist nicht etwa der Geschmack ausschlaggebend für einen Erfolgsgin, sondern das Image. In Kleinmengen und regional produziert muss er sein und dem Käufer den Eindruck vermitteln, alle Zutaten seien in einer Manufaktur von frisch gecremten Händen einzeln gepflückt, selektiert und nur mit ihrem Einverständnis schonend gebrannt worden…

Es gilt eine Beziehung zu dem Gin aufzubauen, den man trinkt. Schließlich investiert man schon einmal 50 Euro in eine Flasche und damit mehr als in seine Beziehung. Früher waren es Walpatenschaften, heute sorgt man dafür, dass Ginproduzenten überleben. Wenn das Eis der Pole schon schmilzt, dann zumindest in einem guten Gin mit einem Schnitz Zitrone. Dann geht die Welt zumindest mit Stil unter…

Doch Gin ist nicht gleich Gin. Längst sind nicht mehr nur Wacholder und Kopfschmerzen die essenziellen Bestandteile. Wichtiger sind mittlerweile produktindividuelle Zutaten, die im Gen-Z-Deutsch „Botanicals“ heißen. Es erinnert an den Druiden Miraculix, der wahllos irgendwelche Kräuter und Beeren in einen Topf wirft und hofft, dass etwas herauskommt, was unglaubliche Kräfte erweckt oder besser noch unglaubliche Einnahmen beschert…

War Basilikum an einem Glas einst bloß ein unliebsames Überbleibsel nach dem Spülen, ist es längst ein extravagantes Botanical für den G’n‘T. Was gut schmeckt ist das eine, was sich gut anhört das andere. Und so darf es auch gerne ein Gin mit japanischer Tee-Hortensie, grönländischem Porst oder Maniok-Bisameibisch sein. Weil sich das eben gut auf dem Flaschenetikett liest, auch wenn es nicht anders schmeckt als Rheumasalbe riecht…

Die Menge an Ginsorten wächst schneller als Unkraut im Garten. Das erfordert einprägsame Namen. Waren früher Friseure wie Haarbracadabra und Hairoin führend, wenn es um kreative Namen ging, haben Ginhersteller diesen längst den Rang abgelaufen. Neben altdeutschen Namen wie Ferdinand, Siegfried und Adolf werden gerne auch Tiere wie Affen und Elefanten als Namenspaten herangezogen. Bleibt zu hoffen, dass diese keine Botanicals für den besonderen Geschmack beisteuern…

Namen wie Gingis Khan, GinChilla und Frank Ginatra heben sich eben von der Masse ab. Auch wenn unklar bleibt, ob mongolische Massenmörder, plüschige Nagetiere und ein toter Swingsänger wirklich für guten Gin stehen. Beim Probieren des ein oder anderen Gins mit kreativem Namen und ebenso kreativem Preis muss allerdings die Frage erlaubt sein, ob nicht etwas weniger Zeit für den Namen und dafür etwas mehr Zeit für die Rezeptur besser gewesen wäre…

Was für Gin gilt, gilt übrigens ebenso für seinen kongenialen Partner Tonic. Vorbei sind die Zeiten, in denen Tonicwater einfach Tonicwater hieß und auch so schmeckte. Früher gab es nur zwei Sorten der Bitterlimonade: eine in Dosen und eine in Flaschen; beide mit gelbem Etikett. Heute existiert zu jedem individuellen Gin ein individuelles Tonicwater mit fancy Namen und dazu eine spezielle Obst-, Gemüse- oder Unkrautsorte, die nur gemeinsam und im designten Glas das Aroma richtig entfaltet…

Je aufwändiger die Verpackung, umso enttäuschender ist jedoch oft der Abgang. Das haben manche Gins mit manchen Frauen gemeinsam. Mir persönlich schmeckt Gin übrigens am besten, wenn man ihn kurz vor dem Servieren gegen ein Bier eintauscht. Gingle Bells… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P. S. Wenn es zu jedem Gin die passende Sorte an Tonic gibt, gibt es dann zu jedem Gin auch die passende Sorte an Kopfschmerztabletten?

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