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Grüne Tomaten schlafen wütend

Haben wir das nötig?

Das Aufräumen der eigenen Wohnung hat für gewöhnlich den Nebeneffekt, dass man neben Unmengen von Knabberkramresten in und unter dem Sofa auch solche Sachen wiederfindet, die man länger schon gesucht hat. Oft stößt man in der Küche jedoch auf irgendwelchen Kram, von dem man völlig vergessen hatte, ihn zu besitzen. Herzförmige Spiegeleiformen, ergonomische Sparschäler oder gebogene Plastikboxen für Bananen sind Dinge, die man einmal als vermeintliche Wundererfindungen teuer erworben, jedoch nie wirklich benutzt, geschweige denn vor dem Wiederfinden vermisst hat. Früher brauchte man solchen Plunder nicht und heute offenbar ebenso wenig…

Viele moderne Errungenschaften sind unnötig. Das mahnte schon immer meine Oma, wenn ich als Kind wieder einmal vergeblich versuchte, sie von den Vorzügen neuer Legosteine gegenüber alten Holzklötzen zu überzeugen. Mein Opa war da offener für Veränderungen und tauschte auch schon einmal Bewährtes gegen Neues. Was dazu führte, dass er zunächst die Latrine im Garten durch eine Toilette im Haus ersetzte und einige Jahre später schließlich meine Oma durch die Nachbarin. Oma hatte damals schon nicht ganz Unrecht damit, dass früher, als man die Staaten auf der Europakarte noch an einer Hand abzählen konnte, vieles einfacher und trotzdem nicht unbedingt schlechter war… 

Je moderner unser Alltag wird, umso komplizierter wird er auch. Früher konnte man zeitgleich mit dem Bus an der Haltstelle ankommen und kaufte sein Ticket beim Fahrer. Heute sollte man eine Stunde vorher vor Ort sein, um rechtzeitig ein Ticket aus dem Automaten zu bekommen. Wenn auch sicherlich weder das richtige noch das günstigste. Früher war zermatschtes Obst billiger als frisches. Seitdem es jedoch Smoothie heißt, ist es doppelt so teuer. Einst genügten auch einige wenige Automodelle, die in wenigen Minuten mit wenigen Werkzeugen zu reparieren waren. Heute brauchen wir unzählige davon und ebenso viele Stunden und Werkzeuge, um eine Glühbirne zu wechseln…

Elektrischen Geräten genügte früher ein einfacher Ein-Aus-Schalter. Wer es versäumte, den Toaster auszustellen oder das richtige Waschmaschinenprogramm zu wählen, musste mit den Folgen leben und aß eben verbranntes Brot in eingelaufener Wäsche. Heutzutage geht nichts ohne Digitaldisplay mit Anweisungen, Konfigurationsmenüs und Warnungen. Selbst Elektrozahnbürsten und Eierkocher besitzen mittlerweile so viele Einstellmöglichkeiten, dass sie nicht mehr ohne daumendicke Betriebsanleitung auskommen. Der Mensch hat es geschafft, zum Mond zu fliegen, da sollte er auch in der Lage sein, selbstständig ein Ei zuzubereiten, ohne ein zweites Fukushima zu verursachen…

Früher reichte einlagiges Klopapier statt alter Zeitungen, um zufrieden zu sein. Heute reagiert unser Körper direkt mit Verstopfung, wenn das vierlagige Luxustoilettenpapier nicht in der zu den Badfliesen passenden Farbe vorrätig ist. Was waren das für archaische Zeiten, als man Kaffee einfach so lange stehen ließ, bis er die gewünschte Trinktemperatur hatte und nicht am Vollautomaten herumfriemeln konnte, um die individuelle Wohlfühl-Gaumentemperatur einzustellen. Unvorstellbar wie Generationen vor uns Kühlschränke benutzen konnten, die weder Biofresh-Technik hatten noch nervig piepten, wenn sie mal offen standen, und dennoch die Welt nicht in den Untergang führten…

Seitdem wir Essen nicht mehr erlegen, sondern nur noch verdauen, sind wir bequem geworden und haben uns daran gewöhnt, bei allem wählen zu können. Hatte der Tante-Emma-Laden um die Ecke früher zwar wenig, aber alles was es zum Leben brauchte, werden heute Supermarkthallen erwartet, die jeden Artikel mehrfach zur Auswahl anbieten. Nach dem Krieg waren Menschen in unserem Alter froh, überhaupt Brot zu bekommen. Heutzutage drohen wir mit einem Kundenaufstand, wenn kurz vor Ladenschluss das glutenfreie Bio-Ciabatta mit Dinkelmehl ausverkauft ist und wir auf eine der zig anderen Brotsorten ausweichen müssen, an die sich unser Darm noch nicht gewöhnt hat…

Wir alle sind davon getrieben, zu individualisieren, um nicht zu sein wie unsere Eltern, Geschwister oder Nachbarn. Und das fängt eben schon bei der Form des Spiegeleis an. Kein Hobbykoch würzt mehr mit einfachem Salz. Kristalle aus dem Himalaja sind das Mindeste, was die Dosenravioli verfeinert. An Geburtstagen beschränkte sich früher die Auswahl auf Kaffee ohne, mit oder mit viel Milch. Wer Gästen heutzutage nicht Espresso, Cappuccino, Latte Macchiato, French Press und Moccacino mit oder ohne Sirup und Voll-, Mager- oder Sojamilch anbietet, braucht im Folgejahr gar nicht erst mehr mit Besuch zu rechnen. So stehen heute auch Muffins, Brownies, Cup Cakes und Pies mit und ohne Stevia-Süße statt Zucker dort, wo früher Omas leckerer Käsekuchen ausreichte… 

Niemand ist in heutiger Zeit mehr mit dem Einfachen zufrieden. Das mag daran liegen, dass jeder sich in einer Zeit, in der er hat, was er braucht, auf das konzentrieren kann, was er lieber hätte. Anderthalb Jahre Pandemie hat bei vielen die Grenze zwischen Individualismus und Egoismus verschwinden lassen. War früher derjenige glücklich, der überhaupt einen Fernseher besaß, ist der Besitz eines solchen heutzutage keine Erwähnung mehr wert, wenn es sich nicht um das neueste Highend-Modell handelt, das mehr kann und kostet als die uralten Vorjahresgeräte von Freunden. Nicht vorstellbar wie Menschen früher ein Vierteljahrhundert dasselbe Wählscheibentelefon benutzen konnten, wenn man sich heute bereits nach einem Vierteljahr mit dem gleichen Smartphone rückständig fühlt…

Über Generationen hinweg reichten jedem Gelb, Rot, Grün und Blau als Farben völlig aus. Man kaufte Hemden in Gelb, sah ab und an rot oder schlug seine Freundin oder Frau grün und blau. Damit konnte jeder etwas anfangen. In heutiger Zeit diskutieren Paare stundenlang, ob sie nun besser Sand, Flachs, Vanille, Mimose oder Champagner als Farbe für die Wohnzimmerwand nehmen sollten. In dieser Zeit hätte man früher zwei Eimer Beige gekauft und das ganze Haus gestrichen. Da müssen sich junge Elternpaare nicht wundern, wenn ihre Kinder heutzutage mit Schreikrämpfen aus dem Kindergarten heimkommen, weil sie für das Malen eines Baums und eines Hasens den gleichen Braunstift benutzen mussten…

Zugegeben, an manche neumodischen Dinge gewöhnt man sich schnell und andere machen den Alltag auch wirklich etwas angenehmer. Früher zum Beispiel fand ich Kaffee immer langweilig. Mittlerweile geht bei mir nichts mehr ohne Morgenlatte. Haben wir das nötig? … gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P. S. Flieder, Malve und Orchidee sehen als Farbtöne so unterschiedlich aus, wie Spaghetti, Fusilli und Farfalle unterschiedlich schmecken.

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