Wer kennt das Gefühl nicht, das einen stets montags beim Aufwachen ereilt, wenn man nicht glauben mag, dass das Wochenende schon wieder vorbei ist. Gerade war man noch erleichtert, dass die Woche vorüber ist, da beginnt bereits die nächste. Noch schlimmer ist dieses Gefühl jedes Jahr Anfang Januar. Kaum dass man sich von einem stressigen Jahresanfang über eine noch stressigere Jahresmitte hin zu einem erstrecht stressigen Jahresende vorgekämpft hatte, zählt irgendwo jemand lauthals rückwärts, lässt Sektkorken knallen und wünscht einem ein frohes neues Jahr…
Gefühlt vergeht die Zeit zwischen Neujahr und Silvester immer schneller. Dabei war das letzte Jahr weder kürzer als alle anderen zuvor, noch kam das Jahresende für jemanden, der einen Kalender hat, völlig unvorhersehbar. Dennoch kommt es einem gerade so vor, also hätte jemand an der Uhr gedreht. Eben noch lag das alte Jahr endlich hinter einem, da steht das neue schon wieder vor einem. Man hat irgendwie das Gefühl, als würde es sich gar nicht mehr lohnen, den Raclette-Grill, den man immer nur an Silvester rauskramt, wegzuräumen, da man ihn ja eh bald wieder braucht…
War Aufschieben ins neue Jahr unlängst noch die Lösung, um unliebsamen Terminen aus dem Weg zu gehen, sieht man sich plötzlich mit einem Zettel am Kühlschrank konfrontiert, der an den eben noch weit in der Zukunft geglaubten Zahnarztbesuch nächsten Dienstag erinnert. Irgendwie war die Zukunft früher auch mal weiter weg. Gestern noch ein voller Kalender mit viel, was erledigt war, heute bereits wieder ein leerer Kalender mit noch mehr, was zu erledigen ist. Gehasste Pflichttermine sind dabei wie Bumerangs: Man kann zwar versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Jedoch besteht dann die Gefahr, dass sie – wenn man sie aus den Augen verloren hat – unverhofft auf einen zukommen…
Es ist ein alljährliches Déjà-vu, bei dem sich nichts zu ändern scheint, außer dass man von Jahr zu Jahr schwerer auf der Waage und leichter auf der Bank wird. Wie in einer abwärts gerichteten Endlosschleife geht es mit dem eigenen Leben gefühlt bergab. Alles kommt einem so bekannt vor. Steuererklärung, Arzttermine, Verwandtschaftsbesuche… All das, von dem man gerade froh war, es von der To-do-Liste gestrichen zu haben, steht nun wieder auf ihr. Alles kommt einem so bekannt vor. Es ist ein alljährliches Déjà-vu, bei dem sich nichts zu ändern scheint. Wie ein alljährliches Déjà-vu, bei dem einem alles so bekannt vorkommt. Und jährlich grüßt das Murmeltier…
Die Zukunft scheint in der Gegenwart angekommen, auch wenn man sich die Zukunft als Kind so nicht vorgestellt hatte. Das Leben ist wie ein ewiges Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Spiel. Eben noch ein Ziel vor Augen, muss man sich plötzlich geschlagen geben und zurück zum Start, wo nichts anderes übrig bleibt, als von vorn zu beginnen. Vorausgesetzt man landet nicht im Gefängnis. Wie hätte sich Gott gefühlt, wenn er nach Vollendung der Welt am siebten Tag erfahren hätte, dass er montags schon gleich wieder ran muss? Nach Silvester von heute auf morgen ein Jahr näher am Tod und weiter von der Zeit entfernt, als man sich nüchtern noch so jung fühlte, wie heute nur noch mit zwei Promille…
Bis zuletzt hatte man versucht, mit Weihnachtsmütze und Glühwein in besinnliche Stimmung zu kommen. Jedoch war der Grund für die Wärme ums Herz keine Emotion, sondern Sodbrennen. Nun hat das neue Jahr begonnen. Wieder zwölf Monate, die mit Alltäglichem gefüllt werden wollen. Wieder 365 Tage, in denen die Haare auf dem Kopf weniger und auf dem Rücken mehr werden und in denen sich die eigene Freundin zunehmend in ihre Mutter verwandelt. Wieder 52 Wochen mit Spam-Mails und Fake-News, in denen man sich vornimmt, die Treppe statt den Aufzug zu nehmen. Weitere vier Quartale, in denen man sich an einem verkaterten Morgen vornimmt nie wieder Alkohol zu trinken…
Wo nur Tage zuvor Kinderchöre mit ihrem Gesang den Kauf von Ohrenschützern ankurbelten, ist nun Stille. Die Punks in der Fußgängerzone tragen statt roter Filzweihnachtsmützen wieder ihr rotes Filzhaar. Die Weihnachtsdekoration in den Geschäften ist den ersten Karnevalskostümen gewichen. Und ist Karneval erst erreicht, ist auch Ostern nicht mehr weit. Kaum dass dann alle Eier gefunden sind, ist das Jahr auch schon wieder halb vorüber. Nach dem Sommerloch wartet Halloween und dann auch schon gleich wieder Weihnachten. Irgendwie ist 2025 schon fast wieder vorbei. Die Zeit rast. Da sollte man den Weihnachtsbaum gar nicht erst abbauen. Lebkuchen gibt es ja auch das ganze Jahr…
Warum erwartet man gerade in der Weihnachtszeit Ruhe und Entspannung, wo doch der Dezember im Job und beim Einkauf eher aus Anspannung statt aus Entspannung besteht? Ist es in der kalten Jahreszeit die Wärme des sich über die Jacke ergießenden Glühweins oder die körperliche Nähe spitzer Ellbogen im Weihnachtsmarktgedränge? Sind es die rot leuchtenden Gesichter heulender Kinder, die um Spielekonsolen betteln und dabei nicht ahnen, wie nahe sie einem plötzlichen Kindstod sind? Vielleicht sorgen aber auch die Weihnachtsmänner für Besinnlichkeit, die vor Kaufhäusern auf Angebote für Miederwaren hinweisen und Kinder auf ihrem Schoß an ihren Sack fassen lassen…
Vielleicht ist es auch der Duft von billigem Rotwein, der an Opa erinnert. Weihnachten ist ja bekanntlich das Fest der Familie, an dem man Verwandte gern wissen lässt, was sie einem bedeuten. Der Familienstreit ist damit quasi vorprogrammiert. Traditionell herrscht an den Feiertagen vielerorts eine Stimmung, wie sie für eine Beerdigung kaum passender wäre. Der Heiligabend vermittelt daher oft den Eindruck, statt Christus wäre der Antichrist allgegenwärtig. Und das nicht nur wegen der schiefen Christbaumspitze. Kein Fest wandelt so filigran zwischen Harmonie und Massaker wie Weihnachten, wo bittersüßer Duft an gebrannte Mandeln wie auch an Zyankali erinnert…
Das Weihnachtsfest weckt daher das Bedürfnis nach einem Abschluss mit gefüllter Gans und ein paar an die Lieben gerichteten Worten, ebenso wie nach einem Abschuss mit gefüllter Schrotflinte und ein paar auf die Lieben gerichteten Salven. In beiden Fällen genießt man das mit roten Kugeln geschmückte Zimmer. Warum also sehnen wir uns so nach dem Jahresende, wenn nur Stress, Streit und die Gewissheit warten, dass nach dem Jahreswechsel alles von vorne beginnt? Das Persil mit der roten Schleife allein kann es ja auch nicht sein. Warum das nächste Mal nicht einmal Weihnachten ausfallen lassen, an Silvester früh ins Bett gehen und den Kalender nicht umblättern…?
Oder sollen wir an 2024 einfach noch einen Monat dranhängen? Dann würde es heute noch nicht heißen: Willkommen im morgen von gestern… gruenetomaten@live-magazin.de.
Patrik Wolf
P.S. Lametta ist übrigens nicht die italienische Bezeichnung für roh verzehrbares Hackfleisch.