Mal Hand aufs Herz: Schaut Ihr noch Fernsehen oder flimmert bei euch auch nur noch Netflix und Co. über den Bildschirm?
Die gute, alte Glotze war über Jahrzehnte zentraler Dreh- und Angelpunkt ganzer Generationen. Nichts bewegte die Nation so sehr wie Straßenfeger-Krimis, Samstagsabendshows und Lieblingsserien. Da kamen höchstens noch Musikstars und Sporthighlights mit, aber auch die fanden ja letztlich im Fernsehen statt. Ist dank Internet und Streaming-Diensten bald Schluss mit „Ich glotz TV“?
Waren es vor ein paar Jahren noch vor allem jugendliche Jahrgänge, die sich dem Netflix & Chill Trend hingaben, so hat Binge Watching inzwischen längst auch die Eltern- und Großeltern erreicht. Wenn sich jetzt alle Altersstufen ausschließlich den verschiedenen Streaming-Angeboten hingeben, wieso postuliert die Fernsehwirtschaft dann immer noch mehr oder weniger stabile Quoten? Nur an der Spitze der Zuschauergunst scheint die Fernsehwelt noch in Ordnung. Allerdings finden sich hierzulande unter den TopTen der historisch höchsten Einschaltquoten nur Fußball-Spiele, gefolgt von „Tatort“ Episoden, vornehmlich aus Münster. Momentan unerreicht ist das WM Finale 2014, mit erfolgreicher deutscher Beteiligung, das 34,6 Millionen Menschen sahen, was damals einem Marktanteil von 86,3 % entsprach.
„Marktanteil“ scheint überhaupt in den letzten Jahren das Zauberwort geworden zu sein, wenn es um die Bemessung der Zuschauerzahlen geht. Während die konkreten Zahlen der „Einschaltquoten“ noch einen direkten und einfach nachvollziehbaren Eindruck vermittelten, wie viele Menschen zum Beispiel bei „Wetten, dass…?“ vor den Fernsehern saßen, bleibt der „Marktanteil“, der sich ja nur im Prozenten ausdrückt, in dieser Hinsicht wenig anschaulich. Honi soit qui mal y pense!
Aber glücklicherweise lässt sich das Ganze ja mittels simplen Dreisatzes zurück rechnen. So verrät einem das angesprochene WM-Finale, dass 2014 der gesamte „Markt“ etwa 40,1 Millionen Zuschauern entsprach. Wendet man die selbe einfache Rechnung auf Zahlen aus 2019 von Günther Jauchs Erfolgsformat „Wer wird Millionär“ mit 15,1 % Marktanteil und demnach 4,75 Millionen Zuschauer an, so stellt man überrascht fest, dass der Gesamtmarkt in nur fünf Jahren auf 31,5 Millionen geschrumpft ist. Das bedeutet: in der kurzen Zeit hat das lineare Fernsehen scheinbar mehr als jeden fünften Zuschauer verloren!
Zahlenzauber für Fortgeschrittene
Tatsächlich sieht es noch drastischer aus, wenn man sich die spezielle Zähltechnik der Sender vor Augen führt. Nehmen wir mal Branchenprimus Klaas Heufer-Umlauf als Beispiel. Der erreichte mit der vierten Staffel „Late Night Berlin“ durchschnittlich eine knappe halbe Million Zuschauer. Damit verbesserte er seine Zahlen sogar vermeintlich, obwohl doch eigentlich gerade immer weniger junge Menschen aus seiner Zielgruppe klassisches TV schauen. Wie kann das sein? Nun, das könnte an folgendem einfachen Trick liegen: Laut Angaben von ProSieben wurden knapp 60 % der Zuschauer nämlich gar nicht im linearen Fernsehen erreicht, sondern viel mehr über Streaming-Kanäle wie Joyn oder YouTube – sie werden aber trotzdem munter bei den TV-Quoten mitgezählt. Den gleichen Kniff wenden auch die Öffentlich-Rechtlichen an. Die Sendungen von ZDF-Hoffnungsträger Jan Böhmermann sehen im „normalen“ Fernsehen gerademal 400.000 Menschen, während seine Verwertungskette es über das Netz auf mehrere Millionen Klicks bringt. Anders ausgedrückt, das sind in erster Linie Mediatheken-Hits, während sie aber kaum noch jemand zur Ausstrahlungszeit sieht – trotzdem werden sie als klassische „Fernseh“ Zuschauer mit gerechnet. So gesehen (und gezählt) ist es dann auch kein Wunder, dass die großen Fernsehsender von einem stabilen Markt reden.
Doch auch nach dieser Sichtweise erreichen seit Jahren nur die beiden öffentlich-rechtlichen Programme – wie auch immer – im Schnitt einen Zuschaueranteil von über 10 %. Nach Angaben von Media Control hatte das ZDF dabei 2019 mit einem Marktanteil von 13,1 % mehr Zuschauer als jeder andere deutsche TV-Sender. Die ARD lag mit 11,3 % in der Zuschauergunst auf Platz zwei, während RTL mit 8,5 % meistgesehener deutscher Privatsender, vor SAT1 und VOX war. Das alles natürlich wieder in Prozenten dargestellt, sonst wäre der schwindende Markt ja allzu offensichtlich. Immerhin sollen solche Zahlen natürlich in erster Linie die Werbekunden bei Laune halten, aber die haben längst das nächste Problem erkannt. Denn nur weil da jemand vorm laufenden Fernsehgerät sitzt, macht das die Person noch lange nicht zum echten Zuschauer.
Denn als ob die Streaming-Angebote nicht genug Konkurrenz darstellen würden, birgt das Internet noch eine weitere bedrohliche Entwicklung für das lineare Fernsehen: Second Screen. Dieser schöne Anglizismus steht für die zunehmend beliebte Praxis, während des Fernsehschauens gleichzeitig mindestens mittels Smartphone oder Tablet verschiedene Internetangebote zu nutzen. Denn was eignet sich besser, um mal eben Instagram zu checken oder sich Connor McGregors 40 Sekunden K.O.-Sieg nochmal anzuschauen, als schon hundertmal gesehene Werbeblöcke. Das ist der Aufmerksamkeit der Zuschauer, leicht nachvollziehbar, nicht wirklich zuträglich, was wiederum die werbetreibende Wirtschaft nicht sonderlich erfreut. Wirklich belastbares Zahlenmaterial über die Auswirkungen dieses Trends gibt es noch nicht, aber erste Werbetreibende wollen per Marktforschung signifikant sinkende Werbeerinnerungen ausgemacht haben.
Münster vor, noch ein Tor
Bleibt nur noch die Frage, was schauen die Leute denn überhaupt noch regelmäßig und in aussagekräftiger Zahl? Wie weit sind der Tagesschau, Tatort und Fußball dem sonstigen Programm in der Zuschauergunst voraus? Zum Vergleich eignet sich hervorragend der Vox Quotenkönig Guido Maria Kretschmar mit seiner „Shopping Queen“. Obwohl auch die Einschaltquoten des rosa Busses rückläufig sind, lockt er regelmäßig noch zwischen 600 und 700 Tausend Zuschauer vor den Apparat. Das klingt zwar erstmal nicht wenig, doch am Ende sind es praktisch nur noch Peanuts, wenn man sich die Reichweiten der großen Drei anschaut. Denn auch abgesehen von Rekordzahlen der WM Endspiele zeigt das runde Leder seine Anziehungskraft selbst bei Spielen der dritten Liga. Die knackt nämlich aktuell pro Spieltag beinahe die Millionen-Grenze und liegt damit praktisch auf dem Niveau von Bundeligaspielen der Bayern mit 1,1 Millionen Zusehern. Über solche Quoten kann die Tagesschau nur müde schmunzeln. Doch obwohl 2019 durchschnittlich rund 9,79 Millionen um 20.00 Uhr einschalteten, ist hier zwar ein deutlicher Schwund zu verzeichnen, denn 2017 besaß die Tagesschau laut AGF/GfK-Fernsehforschung noch eine Reichweite von rund 10,18 Millionen Zuschauern. Ganz weit vorne freut sich der Tatort über einen Spitzenwert von mehr als 14 Millionen im letzten Jahr. Bei den 37 Erstausstrahlungen des Sonntagskrimis saßen 2019 im Schnitt neun Millionen Zuschauer vor dem Bildschirm, die Ermittler aus Münster schafften es in ihren drei Episoden im Schnitt auf mehr als dreizehn Millionen. Aber sollen Fußball, blödelnde Kommissare wirklich alles sein, was von der einstigen Herrlichkeit übrig geblieben ist?
So schön zweistellige Millionen an Zuschauern in verbliebenen Einzelfällen auch sein mögen, so können sie nicht darüber hinweg täuschen, dass da eine Entwicklung vor sich geht, an deren Ende wohl irgendwann vom Fernsehen wie wir es kannten, nicht mehr viel übrig bleiben wird. Ein letztes Indiz: die gerade zu Ende gegangene Staffel der RTL Kult-Show „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ wird wegen ihrer knapp 5 Millionen täglichen Zuschauer vom Sender gefeiert. Dennoch kann auch dieser Niveau-Limbo nicht darüber hinweg täuschen, dass der Sendung seit 2014 zunehmend die Zuschauer ausgehen. Damals auf dem Höhepunkt der Reihe waren es nämlich noch rund 8 Millionen. Andere vormalige Reichweitengaranten wie „Germany’s Next Topmodel“, „DSDS“ oder die „Formel 1“ unterschreiten längst schwindsüchtig sogar die zwei Millionen Grenze.
Natürlich ist es angesichts einer solchen Entwicklung legitim, dass die Sender ihre Reichweiten „kreativ“ interpretieren. Nicht zuletzt, weil ein Teil des Problems hausgemacht ist, denn einer der Gründe für die Quotenverluste ist schlichtweg die Zunahme an Sendern selbst. Zur Zeit sind mehr als 180 private Fernsehprogramme bundesweit zugelassen, plus 21 Programme des öffentlich-rechtlichen Anstalten. Trotzdem darf auch das steigende Programmangebot nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Markt massiv schrumpft.
Aus die Maus
Da wären die Sender vielleicht besser beraten, statt Energie an vertuschende Zahlentricks und Selbstbeweihräucherung zu verschwenden, sich offen der Entwicklung zu stellen und von Grund auf die künftige Konzeption des Mediums zu überdenken. Ob und wann sie das endlich tun, könnte uns dem Zuschauervolk eigentlich egal sein – sollte es aber nicht. Angesichts der von vielen Seiten zu recht beklagten massiv fortschreitenden Massenverblödung, dürfte keine Chance ausgelassen werden, wo immer möglich Bildung unters Volk zu bringen. Die Öffentlich-Rechtlichen sind dazu sogar gemäß ihres Bildungs- und Grundversorgungsauftrag verpflichtet. Ob sie das mit Florian Silbereisen als Traumschiffkapitän tun, lassen wir an dieser Stelle mal dahingestellt und wenn schon die lieben, kleinen Bratzen mit Tablet oder Muttis Smartphone vor der Nase aufwachsen, dann machen die paar Minuten „Sendung mit der Maus“ in der Woche auch keinen Unterschied mehr. Unterm Strich jede Menge Gründe für reichlich Kulturpessimismus. So langsam können wir wirklich alle abschalten.