Komaglotzen, Serienmarathon, Binge-Watching – was vor Jahren harmlos als Netflix & Chill begann, versammelt aktuell mehr und mehr Serienjunkies vor der Glotze. Immer öfter, immer länger, Corona sei Dank.
Ansagen wie „Einer geht noch!“ und „Schlaf wird überschätzt“ erfreuen sich dieser Tage größter Beliebtheit. Was früher allerdings auf gesellige Besäufnisse oder exzessive Partynächte gemünzt war, meint heute eher Belustigungen im sehr überschaubaren Personenkreis, meistens sogar ganz alleine. Und vom „Trinkgelage“ ist nur das Gelage übriggeblieben, das heißt im Englischen „binge“ und wird benutzt, wenn etwas exzessiv betrieben wird, wie zum Beispiel „binge eating“ oder „binge drinking“, also exzessives Essen oder Trinken. „Binge-Watching“ steht also für gnadenlosen Konsum von ganzen Fernsehserien. Dabei handelt es sich um den gerade in Corona-Zeiten immer populärer werdenden Trend, nicht mehr nur ein oder zwei Episoden einer Serie anzuschauen, sondern eben eine ganze Staffel oder gleich die komplette Serie. Binge-Watching ist gerade in der Pandemie etwas ganz Normales geworden. So ein ganzer Tag auf dem Sofa mit der neuen Lieblingsserie hat ja schon was Schönes.
Ermöglicht wird dieser verlockende Zeitvertreib durch die omnipräsente Verfügbarkeit von Video-Material auf den einschlägigen Streaming-Plattformen, die wirklich süchtig machen. Im Gegensatz zum linearen Fernsehen, bei dem das Programm durch den Fernsehsender nur in homöopathischen Dosen freigegeben wird, können bei Video-on-Demand-Angeboten mehrere oder gleich alle Folgen in einem Rutsch angesehen werden. Zwar ist Binge-Watching praktisch schon seit der Erfindung der Videokassette und auch durch die Veröffentlichung kompletter Serienstaffeln auf DVD möglich, jedoch erst, nachdem vorher die einzelnen Episoden im Fernsehen gezeigt wurden. Spätestens seit fortlaufend neue komplexe Qualitätsserien auf dem Markt kommen, gewinnt das Phänomen zunehmend an Anhängern. An Dynamik zugelegt hat das Ganze, als Anbieter wie Netflix, Prime oder Sky alle Folgen einer Staffel gleichzeitig veröffentlichen und als dann letztes Jahr noch die Pandemie mit Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren die Leute praktisch zum Stubenarrest verdammte, brachen alle Dämme.
Valar Morgulis
Dass derlei Serienmarathons nicht nur faszinierend und angesagt sind, sondern auf Dauer auch ungesund, dürfte niemand ernsthaft überraschen. Das beginnt schon dort, wo die eigene Kontrolle über das Serienschauen aufhört. Denn Serien am Stück zu schauen, ist nicht immer eine freie Wahl, sondern kann ein suchtähnliches Verhalten darstellen. Aus „nur noch eine Folge“ wird dann meist „nur noch vier Folgen“. Doch was ist eigentlich am „Seriensuchten“ so schädlich? Paradoxerweise schaden gerade besonders gut gelungene Serien der Gesundheit, weil die einen eben lange Zeiträume vor dem Bildschirm fesseln. Der Grund liegt auf der Hand: die Neugierde der Binge-Watcher darüber, wie es mit der Handlung weitergehe, in Kombination mit der stets verfügbaren Erlösung – nur einen Klick entfernt.
Naheliegend ist, dass mit Binge-Watching ein Schlafentzug einhergeht. Das amerikanische Fachmagazin „Journal of Clinical Sleep Medicine“ veröffentlichte eine Studie mit 400 Probanden zwischen 18 und 25 Jahren, von denen sich 80 Prozent als „Binge Watcher“ bezeichneten, untersuchte. Das Ergebnis: Dauerserienschauer haben daraus resultierende Schlafstörungen und somit ein um 98 Prozent erhöhtes Risiko für schlechteren Schlaf. Klar, denn wer abends eine fesselnde, neue Serie beginnt, der hört nicht nach zwei, drei Folgen wieder auf, sondern schaut sie sich im Extremfall einfach ganz an. Ohne Rücksicht auf den eigenen Schlafrhythmus, mit nicht zu unterschätzenden Folgen für den gesamten Metabolismus.
Australische Forscher konnten unlängst belegen, dass Binge-Watching nicht ohne Einfluss auf das Gehirn bleibt. In erster Linie schadet es dem Gedächtnis, was damit zusammenhängt, dass Menschen schlechter lernen, wenn sie viele Informationen auf einmal verarbeiten müssen, anstatt diese auf kleine Häppchen zu verteilen. Die, die sich die Folgen mit gewissen Abständen anschauen, müssen sich jedes Mal wieder aktiv an vorherige Folgen erinnern – das trainiert die grauen Zellen. Hat man die Folge aber unmittelbar vorher gesehen, fällt dieser aktive Abrufeffekt aus. Das kann sich langfristig sogar auf die kognitive Leistungsfähigkeit auswirken. Ein weiterer bereits nachgewiesener neurologischer Effekt, wenn wir eine lange Zeit vor dem Bildschirm verbringen, ist eine reduzierte Myelin-Produktion, die Depressionen und Angstzustände begünstigt, denn Myelin schützt die Nervenzellen. Manche Studien vermuten auch sogar ein höheres Alzheimer-Risiko.
Homelander, Heisenberg und House
Außerdem wäre es wohl nicht die schlechteste Idee, weitere mögliche Folgen des Binge-Watching zumindest im Auge zu behalten, wie zum Beispiel ein weiter degenerierendes Sozialleben, das unter Corona-Bedingungen ohnehin schon massiv reduziert wird. Selbst beim gemeinsamen Suchten der Serien mit Partnern oder Familie, bleibt oft die Kommunikation auf der Strecke. Soziale Isolation und Einsamkeit lassen so nicht lange auf sich warten. Dazu kommt, dass notorische Binge-Watcher oft ihre Pflichten wie zum Beispiel den Haushalt aber auch die Arbeit oder die Familie vernachlässigen, um mehr Zeit auf der Couch verbringen zu können. Und gerade die lässt sich ja zusammen mit den Liebsten auch noch für Anderes nutzen. Das würde dann auch gleich noch einer weiteren Gefahr entgegenwirken, dem Mangel an ausreichender Bewegung. Bei einem Dauer-Fernsehkonsum von mehr als vier Stunden täglich zeigten Teilnehmer einer Studie ein doppelt erhöhtes Risiko eines vorzeitigen durch Herzkreislaufkrankheiten bedingten Todes. Da helfen dann auch weder Greg House noch Meredith Grey.
Nachdem wir nun also alle wissen, warum wir uns auch diesem Suchtmittel nur verantwortungsvoll hingeben sollten, können wir jetzt mal einen oder eben mehrere Blicke auf die Objekte der Begierde werfen. Da wären also zuerst die klassischen Serien, welche deutlich vor dem Durchbruch der Streaming-Dienste realisiert wurden. Die zeichnen sich oft durch ewig viele Staffeln mit noch mehr Folgen aus und nicht alle sind durchweg so genial konstruiert wie „Dr. House“. Zudem wurden an sich wirklich unterhaltsame Serien wie „Two and a half men“ oder „The Big Bang Theory“ praktisch tot gesendet und laufen auch heute noch rauf und runter, was den Reiz am bingen signifikant schmälert. Dennoch sind in dieser Serien-Generation tolle Perlen dabei, die einen dann schon mal für ein paar Tage ans Sofa binden können. Absoluter Redaktionsliebling in dieser Generation ist ganz klar die Krimiserie um den Saarbrücker „Autoverleih Pistulla“, mit nur 13 Episoden à 25 Minuten in einer einzigen Staffel, also auch bestens für Einsteiger geeignet.
Vor etwa 10 Jahren begann dann die Ära jener Serien, die schon unter dem Einfluss der aufkommenden Videoportale Streamingdienste entstanden sind und wenig später dann mitunter auch von diesen produziert wurden. Je weiter Binge-Watching in der Beliebtheit wuchs, umso mehr schrumpfte die Episoden- und Staffelzahl. An dreistellige Zahlen ist nicht mehr zu denken, selbst nicht bei der ungemein beliebten „Prison Break“, die immerhin nach 81 Folgen und dann acht Jahren Pause 2017 mit einer neuen Staffel fortgesetzt wurde. Einzige Ausnahme die nicht minder sehenswerte Zombiecalypse „The Walking Dead“ mit bis jetzt 153 Episoden – und ein Ende ist nicht abzusehen. Aber bei Produktionen, deren Erfolg praktisch mit dem Siegeszug des Komaglotzens gleichzusetzen ist, wie „Game of Thrones“ oder „Breaking Bad“, bleibt der Zähler schon bei 73 bzw. 62 stehen. Aber gerade in dieser Überschaubarkeit liegt ja vielleicht auch der Reiz, zumal der Trend sich ja in den letzten Jahren weiter manifestiert hat, wie die nur 25 Folgen von „Stranger things“ oder die gerade mal 13 von „Sherlock“.
Shingeki no Kyojin
Natürlich müssen wir auch noch den aktuell heißesten Scheiß würdigen – und der kommt ausgesprochen abwechlungsreich daher. Gleich ob als Neo-Western wie Kevin Costner’s „Yellowstone“, Sex, Drugs & Crime in „Sky Rojo“ oder absurde Superhelden-Action wie in „The Boys“ oder „Watchmen“. Wobei sich Letztgenannte allein schon wegen der Namen einzelner Folgen lohnt, wie beispielsweise „Meisterleistungen der Comanchen Reitkunst“ oder „Kommt ein Gott in eine Bar …“, selbstredend ohne jeden wirklichen Zusammenhang mit der eigentlichen Handlung. Hinzukommen dieses Jahr außerdem Fortführungen von „Haus des Geldes“, „Sex Education“, „Dead to Me“ und „Stranger Things“. Für „Star Wars“- Fans gibt es die dritte Staffel von „The Mandalorian“ und auch „Peaky Blinders“, „American Horror Story“ und „Dexter“ bekommen 2021 eine Fortsetzung. Irgendwie muss man die Zeit zwischen den beiden Impfterminen ja rumbringen …
Bevor wir es uns jetzt wieder vor dem iPad gemütlich machen, gilt es aber noch unbedingt noch einen etwas exotischen, aber nicht zu unterschätzenden Nebenschauplatz in Augenschein zu nehmen. Die zumeist japanischen Anime-Serien bilden eine eigene Welt, in der man dann auch mit den üblichen Providern nicht weit kommt. Die angesagten Portale heißen Crunchyroll, Wakanim oder Anime on Demand und entsprechend gering ist die Ausbeute auf Amazon & Co. Auch das Publikum unterscheidet sich durchaus vom sonst üblicherweise denkbar breiten Querschnitt aller anderen Genres, schlichtweg weil hier die Generation „Yu-Gi-Oh!“ und „Pokémon“ größten Teils unter sich bleibt. Und der Schritt von verfilmten Kartenspielen zu Serien wie „One Piece“, „Naruto“ oder „Dragon Fall“ ist nicht wirklich weit. Vielleicht findet sich dennoch der ein oder andere hier wieder, dessen erster Kontakt zur japanischen Bilderwelt ein gewisser „Captain Future“ war. Sehenswert sind die zeitgemäßen Animes allemal, gerade wenn für Einsteiger eine gewisse Gewöhnung an die Bildersprache und oft auch an die Untertitel von Nöten ist. Dann aber erklärt sich schnell, warum zum Beispiel die Serie „Attack on Titan“ im Ranking der besten Episoden aller denkbarer Serien von der allmächtigen International Movie Database mit drei der ersten vier Plätze ausgezeichnet wurde, darunter auch die Pole Position. Das noch frische „Jujutsu Kaisen“ hat ihrerseits ebenfalls etliche Preise abgeräumt, darunter den „Anime of the Year“ Award 2020. Kurz gesagt, wer die fernöstlichen Meisterwerke als Zeichentrick und Kinderkram abtut, macht einen kaum verzeihlichen Fehler und verpasst richtig was.