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Grüne Tomaten schlafen wütend

Hip und hyggelig

Wer wie ich während einer lauen Sommernacht in einem Zelt gezeugt wurde, wird sein Leben lang eine innere Verbundenheit zum Camping fühlen. Als ich das Licht der Welt erblickte, war es wie der Blick durch einen spaltweit geöffneten Zeltreißverschluss mit der Frage, wie nach der langen, feuchten und unbequemen Nacht das Wetter draußen wohl sein wird. Auch wenn heutzutage kaum jemand im Alltag mehr auf Elektrozahnbürste und Eiwürfelmaschine verzichten will, entschließen sich jedes Jahr Tausende aufs Neue dazu, den Sommerurlaub in Wohnwägen, Campingbussen und Zelten zwischen Saarland und Grönland zu verbringen. Ein karges Leben unter Fremden in Enge und provisorischen Unterkünften ohne fließend Wasser hat in Deutschland eben seit der 1930ern Tradition…

Für Jüngere war Camping bis vor Kurzem kaum noch vorstellbar. Was nicht fünf Sterne, All-Inclusive und Wellnessbereich aufweisen konnte, wurde einer Übernachtung in der Ausnüchterungszelle gleich gesetzt. Unter freiem Himmel übernachten musste Uropa damals in Stalingrad. Wohnwagen und Igluzelt, das waren die 1980er, in denen die eigenen Eltern dazu gezwungen waren, ihren Urlaub in der Eifel zu verbringen, da es Pauschalreisen in die Türkei noch nicht gab und Mallorca noch nicht entdeckt war. Dann kam plötzlich die Pandemie und auch die Generation unter Fünfzig auf die Idee, dass man Camping auch einmal ohne Musikfestival und Kotzen ausprobieren könnte, da es vielleicht ja ganz „hip“ und „hyggelig“ oder sogar irgendwie romantisch sein könnte…

Eine fatale Falschannahme, wie sich bei vielen Neucampern schon beim ersten Versuch herausstellt, das nagelneue Zelt aufzubauen. Statistisch gesehen trennen sich mehr Paare nach dem ersten Campingurlaub als nach dem ersten Seitensprung. Camping hat für diejenigen, die es erst seit Corona für sich entdeckt haben, einen vielfach unterschätzten, jedoch entscheidenden Nachteil gegenüber dem bisherigen Hotelurlaub: Die Natur. Dort warten nämlich nicht nur malerische Campingplätze, herrliche Panoramen und traumhaftes Wetter, wie es Outdoor- und Campingzeitschriften, Internet-Blogs und geschönte Erzählungen von Freunden glauben lassen, sondern vor allem auch lästige Stechmücken, schnarchende Zeltnachbarn und betrunkene Holländer…

Was jeder, der mit einem Einkaufswagen voller Campingkram an der Ladenkasse steht, wissen sollte: Mit Campen ist es wie mit Sport. Allein das Equipment zu besitzen, heißt nicht auch, es zu können, geschweige denn, es auch zu mögen. Camping bedeutet Luftmatratze statt Federkern, Schlafsack statt Satinbettwäsche und Taschenlampe statt Lichtschalter. Ohne Klimaanlage und festes Dach über dem Kopf ist man dem Wetter hilflos ausgeliefert und dem, was es aus der Frisur macht. Camping heißt keine ständig und überall verfügbare Steckdose für das Smartphone und Toilettenbesuche, die nicht die Verdauung, sondern die Verfügbarkeit einer freien Klokabine bestimmt. Und ja, Camping heißt auch Spinnen und lauwarmes Bier. Viele Spinnen und viel lauwarmes Bier…

Zeigt sich die modebewusste Frau von heute normalerweise nicht einmal ihrem Freund oder Mann ungeschminkt, wird beim Camping von ihr verlangt, dass sie morgens über den halben Zeltplatz bis zum Waschraum läuft, wie der Sandmann sie schuf. Gemeinsam mit einer Freundin auf Toilette ist okay, aber neben einer Fremden Zähne putzen ist gegen die Menschenwürde. Wie ein Huhn auf der Stange soll Sie zwischen unbekannten Frauen, die womöglich auch noch weniger Cellulite haben, vor einem schlecht beleuchteten Spiegel in ein paar Minuten Spachtelarbeiten an ihrem Gesicht verrichten, die zuhause schon einmal ein paar Stunden dauern können. Mund-Nasen-Bedeckungen haben da schon Vorteile. Vor allem, wenn man sie über das gesamte Gesicht zieht…

All-Inclusive bedeutet beim Camping, dass man sich um alles inklusive Essen und Abwasch selbst kümmern muss. Statt Pasta vom Buffet vom Ober heißt es Ravioli aus der Dose von Opa. Für Neucamper ist es schon eine Umstellung, dasselbe Handtuch mehrere Tage benutzen zu müssen, vor allem, wenn es nicht wie im Hotel jeden Morgen vom Zimmerservice zu einem Schwan gefaltet wird. Und dann auch noch der ungewohnt unfreundliche, preußische Platzwart, der im Gegensatz zum sonst gewohnt überfreundlichen, südländischen Hotelrezeptionisten weit weniger zuvorkommend ist, wenn man nachts um zwei Uhr nach Eiswürfeln und Zitrone für den Gin-Tonic fragt oder – noch viel schlimmer – während der mittäglichen Platzruhe mit seinem Auto vom Campinggelände möchte…

Wegen der großen Nachfrage ist ein Wochenende im Wohnmobil mittlerweile teurer als im Wellnesshotel. Vor der Pandemie waren viele noch der Ansicht, dass kein Erwachsener, der es sich anderes leisten kann, freiwillig Urlaub mit Indianerspielen verbringt. Dabei sind Toiletten deutscher Mittelklasse-Campingplätze den Küchen balerarischer Mittelklasse-Hotels hinsichtlich Hygiene sogar überlegen, wo weit mehr Scheiße in den Schüsseln landet. Man muss sich später zuhause nur etwas umstellen, wenn man Freunden statt von Liegestühlen am Pool und Cabrio nun von Klappstühlen am Weiher und Fahrrad erzählt. „Barbecue bei Kerzenlicht mit landestypischen Cocktails“ hört sich da übrigens besser an als „Grillen im Halbdunkeln mit Tütenwein aus dem Campingplatz-Minimarkt“…

Camping heißt Respektieren. Wie bei jeder Tierart gibt es auch bei Campern eine Rangordnung, bei der sich der unerfahrene Neucamper mit Zwei-Personen-Zelt und Kartuschen-Gaskocher dem routinierten Dauercamper mit 42 qm-Caravan und Einbauküche zu unterwerfen hat. Autos mit Wohnwägen und gelben Nummernschildern haben grundsätzlich Vorfahrt, egal was Schilder auf dem Platz sagen. Wehe man steuert unwissend auf eine vermeintlich freie Duschkabine zu, ohne sich vorher erkundigt zu haben, ob diese nicht täglich um die gleiche Zeit von Dauercampern genutzt wird. Man läuft Gefahr, von einem pensionierten Studienrat in Unterwäsche belehrt zu werden als hätte man seiner Tochter an den Hintern gefasst und an den ihrer Mutter gleich mit…

Camping heißt Ignorieren. Camper sind wie Ameisen. Sie leben gemeinsam auf engstem Raum, versuchen aber, sich aus dem Weg zu gehen. Sie nehmen ihr Umfeld einfach aus ihrer Wahrnehmung heraus. Während man zuhause Wäsche niemals dort aufhängen würde, wo Nachbarn sie sehen, ist es auf dem Campingplatz normal, wenn zwischen den Bäumen Schlüpfer wie Fahnen im Wind wehen. Nachdem sie zuvor öffentlich am Becken im Waschhaus von den Spuren der gestrigen Bohnensuppe befreit wurden. Nur durch das wortlose Nebeneinander ist es Campern auch möglich, ihre Notdurft zu verrichten. Können viele zuhause nicht einmal auf Toilette, wenn ihr Partner auf der gleichen Etage ist, reichen beim Camping dünne Sperrholzkabinen für eine mehrstimmige Kakophonie schon aus…

Camping heißt Kennenlernen: Unter Campern findet man dennoch rasch Anschluss. Wer nach dem nächtlichen Toilettengang versehentlich im falschen Zelt landet, hat schnell und unverhofft neue Bekannte. Auch wer im Dunkeln über fremde Zeltschnüre stolpert, hat rasch einen neuen Freund gewonnen. Mit Anmachen wie „Willste Bier?“ hat man aber auch beim Campen nur wenig Chancen. Dagegen kann ein „Willste Klopapier?“ durchaus vor einem beschissenen Tag retten. Und was das nebenan neu angereiste Pärchen mit dem Vierbeiner angeht, weiß der Zeltplatz spätestens am nächsten Morgen, ob beide den Urlaub nur mit Hund oder auch mit Vögeln verbringen…

Ob ich Campingurlaube mag? Klar! Am liebsten sind mir schreiende Kinder und Eltern, die das Geplärre nicht interessiert. Den Kleinen schenke ich abends beim Zähneputzen dann gerne eine große Dose Red Bull. Gute Nacht! Hip und hyggelig… gruenetomaten@live-magazin.de.

Patrik Wolf

P. S. Die Aufschrift „2 Seconds“ bei Wurfzelten bezieht sich übrigens nur auf den Aufbau. Beim Abbau muss es eher „2 Hours“ heißen.

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