Seitdem ich als kleiner Junge im Kinderfernsehen hilflos mit ansehen musste, wie Hänsel und Gretel im Wald von einer alten Frau entführt wurden, verspüre ich gewisses Unbehagen, wenn sich um mich herum mehr als nur ein paar Büsche befinden. Zu tief sitzt das Trauma, das damals durch Heinos Schlager „Im Wald da sind die Räuber“ noch verstärkt wurde. Auch dass ein Großonkel von mir, der immer an seinem Waldgrundstück hing, irgendwann auf seinem Waldgrundstück hing, dürfte dazu beigetragen haben, dass ich bis heute allem misstraue, was Rinde hat und kein Käse ist…
Als Kind empfand ich Genugtuung, wenn wir neues Kaminholz bekamen. Denn dann war klar, dass es im Wald wieder einige Bäume weniger gab, hinter denen Hexen lauern konnten. Hätte es damals schon Facebook gegeben, ich hätte unter jedem Foto eines gerodeten Stamms auf „Gefällt“ geklickt. Meine Dendrophobie wurde trotz des netten sprechenden Marmeladenbaums aus der Trickserie „Dr. Snuggles“ schnell schlimmer. Was wohl am Eichhörnchen lag, das im Mund des Marmeladenbaums wohnte und Grund ist, warum ich bis heute Zahnärzte ebenso wenig mag wie Wälder…
Als Kind konnte ich daher am Waldsterben nichts Schlimmes erkennen. Als Haustier hätte ich damals am liebsten einen Borkenkäfer gehalten, was ich jedoch nicht durfte. Meine schlechte Meinung über Wälder wurde letztendlich dann durch den Horrorfilm „Tanz der Teufel“ besiegelt, in dem ein Baum Sex mit einer Frau hatte. Auch wenn dies eine Szene sein dürfte, die sich heutzutage umgekehrt dutzendfach auf einschlägigen Internetseiten für Erwachsene finden lässt, führte sie bei mir seiner Zeit dazu, dass mir Grünpflanzen im Schlafzimmer Alpträume bereiteten; vor allem Ficus-Stämme. Mein Opa hatte schon Recht, als er immer sagte, dass Holz nur einen Platz haben sollte: vor der Hütte…
Mit der Zeit wurde meine Angst geringer. Noch immer bekomme ich aber beim Weihnachtsbaumkauf inmitten größerer Mengen an Fichten und Tannen feuchte Hände. Was Wälder angeht, ist meine Meinung daher auch heute noch wie ein Scheit Holz… gespalten. Auch wenn der deutsche Wald sein Image als Ort, an dem Verschleppungen in Lebkuchenhäuser drohen, mittlerweile ablegen konnte. Wer auf dem Weg zur kranken Großmutter den finsteren Tann meiden möchte, nimmt heutzutage eben den ÖPNV oder schickt den Korb mit Kuchen und Wein mit dem Paketdienst…
Waren es früher meist alte Dorfbewohner, die durchs Gehölz streiften, um Steinpilze für ihr Essen oder Fliegenpilze für das ihrer Frau zu suchen, sind es mittlerweile eher junge Stadtbewohner. Objekt ihrer Begierde sind keine versteckten Pilze mit unbekannter Wirkung, sondern versteckte Behältnisse mit unbekanntem Inhalt. Was früher Schnitzeljagd hieß, nennt sich heute Geocaching. Ziel der Jagd über Feld und Flur ist – wie beim Verstecken von Essensresten auf Partys unter Möbeln – dass irgendjemand irgendwann irgendwo ein Schnitzel findet, wo er es nie vermutet hätte…
Wer schon als Kind Spaß am Detektivspiel hatte und insgeheim in Omas Miederwarenschublade nach verborgenen Schätzen suchte, der findet mit Geocaching etwas, was ebendiese Interessen auch im Erwachsenenalter befriedigen kann, ohne dass man eine einstweilige Verfügung wegen Stalkings befürchten muss. Die Idee hinter Geocaching ist dabei eigentlich schon Jahrtausende alt. Eines der ersten Geocaches versteckten die alten Ägypter vor 3300 Jahren und das sogar so gut, dass Tutanchamun erst im Jahr 1922 nach langem Suchen gefunden wurde…
Geocaching ähnelt dem, was die eigenen Großeltern früher regelmäßig in der Eifel taten. Mit dem Unterschied, dass Omi und Opi sich mit Wanderkarten aus Papier herumschlagen mussten und der gesuchte Schatz immer ein kühles Bier war, das auf der Terrasse eines Wanderlokals gefunden wurde. Toll am „Cachen“ ist, dass man es auch spontan machen kann, indem man einfach Brille oder Schlüssel irgendwo deponiert, vergisst wo das war und danach stundenlang damit zubringt, diese dort wiederzufinden, wo man nicht glauben kann, sie jemals abgelegt gehabt zu haben…
Früher gab es noch Ärger, wenn man seine Brotdose in einem hohlen Baumstamm verstecke, um die ungewollte Wurststulle loszuwerden. Heutzutage ist man mit der Erklärung, einen Geocache abgelegt zu haben, fein raus, wenn man von jemandem dabei ertappt wird, wie man den Altölkanister im Wald vergräbt. Die kreativsten Verstecke sind bekanntlich diejenigen, denen man es nicht direkt ansieht. Und wer sagt außerdem, dass ein Geocache, das man irgendwo in der Dämmerung am Waldrand deponiert, nicht auch einmal aussehen kann wir ein Sack voller Bauschutt…
Anders als bei Atommüllendlagern, die gesucht, jedoch nicht gefunden werden, muss bei der GPS-Schnitzeljagd die Möglichkeit gegeben sein, ein Versteck auch wirklich zu finden. Form und Größe der Geocaches sind jedoch nicht festgelegt. Viele in Wäldern zu findende Caches haben die Form alter Autoreifen oder defekter Kühlschränke und sind vielfach auch für Anfänger leicht auffindbar an Wanderparkplätzen versteckt. Entlang von Spazierwegen sind Caches dagegen oft als verknotete rote Beutelchen getarnt, die man der Einfachheit halber nicht nur sehen, sondern auch riechen kann…
Geocaching macht Spaß, birgt jedoch auch Risiken. Früher waren Bodenlöcher und Hangabstürze häufige Gefahren im Wald. Heute sind es Funklöcher und GPS-Abstürze. Es wird sogar von Geocachern berichtet, die sich in blindem Vertrauen auf die Ortungsfunktion ihres Smartphones mehrere Meter von Wegen entfernt haben und nach Ende der Akkuladung nie zurückfanden. Auch wenn dies Einzelfälle bleiben, sind manche Gefahren nicht zu unterschätzen. Vor allem wenn das GPS sich sicher ist, dass der Cache in dem Bienenstock steckt, zu dem der Track geführt hat…
Umweltschützer führen übrigens an, dass die unzähligen, durch die Natur pirschenden, veganen Jungfamilien aus der Stadt die Tier- und Pflanzenwelt stören. Meiner Meinung nach sollen Gudrun & Co. jedoch lieber Wildschweinrotten auf der Waldwiese nerven als mich auf der Schwimmbadwiese. Apropos: Mit Geocaches ist es wie mit Schulschönheiten: Erst jagt man ihnen hinterher, dann ist man enttäuscht, wenn man, nachdem man sie ausgepackt hat, feststellt, wie viele schon vorher ihre Finger am Schatzkästchen hatten. Vegane Schnitzeljagd… gruenetomaten@live-magazin.de.
Patrik Wolf
P. S. Kleiner Tipp für Geocaching-Neulinge: In Gebüschen versteckte Geocaches sind mit zerknüllten Papiertaschentüchern markiert.