Im Laufe der Zeit hat sich die Ansicht darüber, wann eine Gegend bewohnbar und wann sie lebensfeindlich ist, grundlegend geändert. Bestimmte beim frühen Homo sapiens noch die schnelle und uneingeschränkte Verfügbarkeit von Nahrung darüber, wo man sich ansiedelte, ist es heute die schnelle und uneingeschränkte Verfügbarkeit von Internet. Eine 1G-Abdeckung, die einem nur die Erdanziehung flächig liefert, genügt heutzutage niemandem mehr. Es müssen schon 4G oder 5G sein. Der Homo sapiens des 21. Jahrhunderts steht lieber draußen in der Kälte, wo er Netzempfang hat, als drinnen im Warmen zu sitzen, wo selbiger fehlt und er Gefahr läuft, sich unterhalten zu müssen….
Konnte man seine Freizeit früher noch problemlos ohne das Internet gestalten, führt mittlerweile allein der Gedanke daran, ein Tag ohne das weltweite Web auskommen zu müssen, zu Kurzatmigkeit. Der vernetzte Multimediamensch von heute ist nicht einmal mehr in der Lage, Pizza vom Lieferservice übers Telefon zu bestellen. Sobald Smartphone, Tablet oder Computer ihren Nutzer wissen lassen, dass es keine Online-Verbindung nach draußen gibt, fühlt sich dieser in den eigenen vier Wänden gefangen wie in Isolationshaft. Kein Getrolle auf Facebook, kein Gezwitscher auf Twitter und kein Gewische auf Tinder. Bloß die reale Welt, ganz ohne Fotofilter…
Nicht etwa Alkohol oder Nikotin ist die meistkonsumierte Droge unserer Zeit, sondern das Internet. Nie war der Mensch abhängiger als heute, wo viele nicht einmal mehr in der Lage sind, ohne Internet das Wetter in Erfahrung zu bringen. Sie finden sich eher frierend mit Flipflops im Schnee stehend wieder als auf die Idee zu kommen, vor der Kleiderwahl einmal aus dem Fenster zu schauen. Seine Freizeit ohne lustige Katzenvideos auf YouTube und ohne pfiffige Lifehacks auf TikTok verbringen? Nicht auszudenken! Wie soll man sich denn da beschäftigen? Etwa Freunde besuchen und sich außerhalb von Whatsapp unterhalten? Ganz ohne Emojis, dafür mit gewaschenen Haaren? Unvorstellbar…
Das Schlimmste tritt bekanntlich nur selten ein. Wenn, dann jedoch meist mit verheerenden Folgen. Das war mit den beiden Weltkriegen so und auch mit dem Durchfall damals am Schulwandertag. Und eben auch letztens, als ich freitags schockiert feststellen musste, dass mein Internet tot war. Als meine Oma seiner Zeit vom gleichen Schicksal ereilt wurde wie nun mein DSL-Router und ihr plötzlich die Lichter ausgingen, war ich gefasst. Schließlich wusste ich, dass dieser Tag einmal kommen würde. Dass es aber jemals nochmal einen Tag geben könnte, an dem ich ohne Internet bin? Excuse me? Wir haben 2023! Wie gerne hätte ich meinen Frust gepostet. Aber genau das ging ja gerade nicht…
Während man sich bei einem toten Verwandten vertrauensvoll an einen Bestatter wenden kann, der sich kümmert, ist man bei einem toten Internetanschluss auf sich allein gestellt. Was einem bleibt, ist die Kundenhotline des Internetanbieters, mit deren Anruf ein Martyrium beginnt, das einer mittelalterlichen Selbstgeißelungen nahe kommt. Dinge, die nichts kosten, sind bekanntlich nichts wert. Was das angeht, hat die Störungshotline des bekannten magentafarbenen Telekommunikations-Unternehmens allen Grund, kostenlos zu sein. Ich wähle in einem Zustand aus Verzweiflung und Hoffnung die Nummer der Hotline und lande erwartungsgemäß in der Warteschleife…
Nach einem Jingle bittet mich die Bandansage um einen Augenblick Geduld. Bereits der nächste freie Mitarbeiter sei für mich reserviert. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass die Zeit, die ab nun vergehen wird, bis ich jemanden in der Leitung habe, der fähig ist, um Internet von Rindermett zu unterscheiden, ausreichen würde, um eine Niere zu transplantieren. Und um vorher noch das hierfür notwendige Medizinstudium zu machen. Es kommt mir vor als müsste ich eine 22-monatige Elefanten-Schwangerschaft von der Zeugung bis zur Entbindung live am Telefon mitverfolgen. Ohne mehr tun zu können als zu warten. Zu Pandemiebeginn hieß es damals auch, es würde nicht lange dauern…
Während ich warte, macht mich die Ansage darauf aufmerksam, dass Störungen auch über das Internet gemeldet werden können. Lustig, denke ich. Eine Viertelstunde später ist es mit der Lustigkeit vorbei und nach wie vor der nächste freie Mitarbeiter für mich reserviert. Wieso geht da niemand ran? Arbeiten im Callcenter gerade nur Menschen mit sehr kurzen Armen, die nicht an den Hörer kommen? Oder gibt’s gerade Kuchen, da jemand Geburtstag hat? Es knackt in der Leitung. Die Chancen stehen gut, nun aus der Warteschleife geflogen zu sein. Was wie bei Mensch-ärgere-dich-nicht bedeuten würde, von vorne beginnen zu müssen. Doch, ich traue meinen Ohren kaum, jemand meldet sich…
Es beginnt nun das Callcenter-Glücksspiel, bei dem man wie eine Roulettekugel von Mitarbeiter zu Mitarbeiter im Kreis herumgereicht wird, um am Ende rot oder schwarz zu sehen oder bei einer Null zu landen. Die Chance, jemanden an den Hörer zu bekommen, der kompetent ist, ist so hoch wie ein Sechser im Lotto für ein Einhorn. Stellt man zehn Hotline-Mitarbeitern die gleiche Frage, erhält man zehn Antworten, jedoch nie die richtige. Nachdem mein erster Gesprächspartner meine Kundennummer im System nicht findet und der zweite unverständliches Sächsisch spricht, lande ich bei jemandem, der mich ernsthaft fragt, ob ich schon geprüft habe, ob alle Sicherungen drin sind…
Diese Frage gebe ich prompt zurück, was mich in die Warteschleife zurückkatapultiert. Ob passend oder nicht, Callcenter-Mitarbeiter plappern wie Papageien nur das nach, was auf ihrem Monitor steht, ob sinnvoll oder nicht. Irgendwann ist die Fragestunde zu Ende und damit auch die Fachkompetenz. Aus Verzweiflung werde ich ein weiteres Mal weiterverbunden. Weiterverbinden scheint Lösung Nr. 1 für jede Störung zu sein. Soll sich doch ein Kollege mit dem blöden Kunden rumschlagen. Die Wahrscheinlichkeit als Anrufer zweimal beim gleichen Mitarbeiter zu landen, ist bekanntlich gering. Schließlich ist die Inkompetenz ist deutschen Callcentern breit aufgestellt…
Man gewinnt irgendwann den Eindruck, jede ostdeutsche Nagelstylistin, die Mandy heißt, arbeitet während sie gerade jemandem French-Nails macht noch mit dem Handy am Ohr für ein Callcenter. Gibt es außerhalb Sachsens überhaupt Callcenter? Wie konnte man damals im Osten so viel Ahnung vom Abhören haben, wenn sie dort heute nicht einmal mehr Zuhören können? Nach fast einer Stunde lande ich dann bei Enrico, der mir mit der Freundlichkeit eines DDR-Grenzsoldaten bestätigt, dass mein Internet nicht funktioniert. Leider weiß Enrico jedoch weder, was der Grund hierfür ist, noch was jetzt zu tun ist, sondern nur, dass vor Mitte nächster Woche nichts zu machen sein wird…
„Ich hoffe, Sie waren mit dem Service zufrieden“ beendet Enrico daraufhin das Gespräch, ohne dass ich auch nur einmal zu Wort kommen konnte. Ich zeige ihm durchs Telefon den Mittelfinger und lege auf. Willkommen dort, wo die Servicewüste am trockensten ist. Kurz darauf klingelt das Telefon: „Hier ist die Störungsstelle. Sie haben ein Problem?“. „Mein Problem“, antworte ich genervt, „sind Sie“. Kein Anschluss unter dieser Nummer… gruenetomaten@live-magazin.de.
Patrik Wolf